Trennung von Arbeit und Einkommen kein Paradies sondern Zeitforderung

Quelle: GA 186, S. 058-062, 3. Ausgabe 1990, 01.12.1918, Dornach

Was Sie für ein gewisses Zeitalter finden können als die vollkommenste soziale Ordnung, überhaupt als irgendeine Ordnung: wenn Sie es realisieren, so verbraucht es sich und führt nach einiger Zeit wiederum in die Unordnung hinein. Das Evolutionsleben ist nicht ein solches, daß es gleichmäßig aufsteigend ist, sondern das Evolutionsleben verläuft in Ebbe und Flut, verläuft in einer Wellenschwingung. Und durch das Beste, was Sie einrichten, wenn Sie es realisieren auf dem physischen Plan, rufen Sie Zustände hervor, welche nach der entsprechenden Zeit die Vernichtung desjenigen bewirken, was Sie eingerichtet haben. Es würde ganz anders um die Menschheit stehen, wenn man dieses unerbittliche Gesetz der Notwendigkeit im geschichtlichen Geschehen gehörig erkennen würde. Man würde dann nicht glauben, daß man im absoluten Sinne ein Paradies auf Erden begründen kann, aber man würde genötigt sein, hinzuschauen auf das zyklische Gesetz der Menschheitsevolution. Und indem man eine absolute Beantwortung der Frage: Wie soll das soziale Leben sich gestalten? - ausschließt, wird man das Richtige tun, wenn man fragt: Was muß für unser Zeitalter getan werden? Was erfordern gerade die Impulse unseres fünften nachatlantischen Zeitalters? Was will sich in Wirklichkeit umsetzen? - Indem man sich bewußt ist, daß dasjenige, was man realisiert, sich im zyklischen Umschwunge notwendigerweise wieder vernichten wird, muß man sich klar sein, daß man nur in dieser relativen Weise, indem man die Entwickelungsimpulse eines bestimmten Zeitalters erkennt, auch sozial denken kann. Man muß mit der Wirklichkeit arbeiten. Man arbeitet gegen die Wirklichkeit, wenn man glaubt, mit abstrakt-absoluten Idealen irgend etwas einrichten zu können. Für den Geisteswissenschafter, der die Realität, nicht die Illusion, ins Auge fassen will, beschränkt sich eben die Frage so: Was will sich unmittelbar in der gegenwärtigen Wirklichkeit realisieren?

Von diesem Gesichtspunkt waren auch die gestrigen Auseinandersetzungen gemeint, und Sie interpretieren mich ganz falsch, wenn Sie glauben, daß ich meine, daß ein absolutes Paradies dadurch hervorgerufen wird, daß etwa das Arbeitserträgnis von der Arbeit getrennt wird. Vielmehr betrachte ich das aus den tieferen Gesetzen der Menschheitsentwickelung heraus nur als eine Notwendigkeit, die jetzt geschehen muß. Denn hinter dem, was die Menschen im Bewußtsein haben, wonach namentlich die proletarische Lebensauffassung drängt, wenn sie auch die Dinge zuweilen in so radikale Forderungen drängt wie die, welche ich Ihnen gestern als die bolschewistischen aufgezählt habe, liegt ja dasjenige, was sie instinktiv verwirklichen wollen. Und wer auf die Wirklichkeit geht, läßt sich nicht Programme vorlegen, auch nicht das der russischen Räte-Republik, sondern er geht darauf, dasjenige anzuschauen, was heute noch instinktiv hinter diesen Dingen ist, die man äußerlich, stammelnd ausdrückt. Darauf kommt es an; sonst wird man niemals mit diesen Dingen zurechtkommen, wenn man das nicht so ansieht. Dasjenige, wonach instinktiv gestrebt wird, ist eben ganz und gar gelegen in dem Grundcharakter unseres fünften nachatlantischen Zeitraums, der sich wesentlich unterscheidet zum Beispiel von dem vorhergehenden vierten, dem griechisch-lateinischen, oder wieder von dem vorhergehenden dritten, dem ägyptisch-chaldäischen. Die Menschen müssen heute in sozialer Beziehung - nicht als einzelne individuelle Wesen, sondern in sozialer Beziehung - da, wo sie gruppenhaft auftreten, etwas ganz Bestimmtes wollen. Und das wollen sie auch instinktiv. Sie wollen heute, was im vierten nachatlantischen Zeitraum, was bis ins fünfzehnte Jahrhundert unserer christlichen Zeitrechnung noch nicht gewollt werden konnte, ein menschenwürdiges Dasein, das heißt, in der sozialen Ordnung widergespiegelt, eine Erfüllung desjenigen, was diesem Zeitraum als Menschheitsideal vorschwebt. Die Menschen wollen heute instinktiv, daß sich widerspiegle das, was der Mensch ist, in der sozialen Struktur.

Das war im dritten nachatlantischen, im ägyptisch-chaldäischen Zeitraum anders. Und noch anders war es vorher im zweiten. Dieser zweite Zeitraum, also der urpersische, der hatte den Menschen noch ganz in seiner Innerlichkeit; da war der Mensch noch ganz innerlich. Da forderte der Mensch instinktiv, nicht äußerlich in der Welt das wiederzuerkennen, was er innerlich als Bedürfnisse hatte; da forderte der Mensch keine soziale Struktur, die im Äußerlichen das erkennen ließ, was er innerlich als Trieb, Instinkt, als Bedürfnisse hatte. Dann kam der dritte nachatlantische Zeitraum, der ägyptisch-chaldäische. Da forderte der Mensch, daß ein Teil seines Wesens ihm im Spiegel der äußeren sozialen Wirklichkeit erscheine, nämlich dasjenige, was an das Haupt gebunden ist. Daher sehen wir, daß vom dritten nachatlantischen, vom ägyptisch-chaldäischen Zeitraum an gesucht wird theokratische soziale Einrichtung, alles dasjenige, was sich auf theokratische, auf gewissermaßen religiös durchdrungene soziale Einrichtungen bezieht. Das andere blieb noch instinktiv; dasjenige, was sich auf den zweiten Menschen, auf den Brustmenschen bezieht, auf den Atmungsmenschen, und dasjenige, was sich auf den Stoffwechselmenschen bezieht, das blieb instinktiv. Da dachte der Mensch noch nicht daran, das irgendwie im Spiegelbilde der äußeren Ordnung zu sehen. Im urpersischen Zeitraum gab es auch nur eine instinktive Religion, die von den Eingeweihten des Zarathustrismus geleitet wurde. Aber alles dasjenige, was der Mensch entwickelte, war noch innerlich instinktiv. Er hatte noch nicht das Bedürfnis, die Dinge äußerlich im Spiegelbild, in der sozialen Struktur zu sehen. Er fing an, in der Zeit, die ungefähr mit der Begründung des alten Römischen Reiches endete - 747 ist die wahre Jahreszahl vor der christlichen Zeitrechnung -, in dem Zeitraume, der dieser Jahreszahl voranging, zu fordern, daß in der sozialen Ordnung das wiedergefunden werde, was als Gedanke in seinem Kopfe leben kann.

Nun kam der Zeitraum, welcher im achten Jahrhundert, seit dem Jahr 747 in der vorchristlichen Zeit, begann und mit dem fünfzehnten nachchristlichen Jahrhundert endete, der griechisch-lateinische Zeitraum. Da forderte der Mensch, daß sich zwei Glieder seines Wesens äußerlich in der sozialen Struktur widerspiegeln: der Kopfmensch und der rhythmische oder der Atmungsmensch, der Brustmensch. Spiegeln sollte sich dasjenige, was alte theokratische Ordnung war, aber jetzt schon im Nachklang. Tatsächlich haben die eigentlich theokratischen Einrichtungen sehr große Ähnlichkeit mit dem dritten nachatlantischen Zeitraum, selbst die Einrichtungen der katholischen Kirche. Das setzt sich also fort, und neu kommt dazu das, was speziell dem griechisch-lateinischen Zeitraum entstammt: die äußeren Einrichtungen der res publica, diejenigen Einrichtungen, die sich auf die Verwaltung des äußeren Lebens beziehen, insofern Recht und Unrecht und dergleichen in Betracht kommt. Von zwei Gliedern seines Wesens fordert der Mensch, daß er sie nicht nur in sich trägt, sondern daß er sie im Spiegel äußerlich betrachten kann. Sie verstehen zum Beispiel die griechische Kultur nicht, wenn Sie nicht wissen, daß die Sache so ist, daß noch instinktiv, innerlich, bleibt, ohne daß ein äußeres Spiegelbild gefordert wird, das reine Stoffwechselleben, das sich äußerlich in der ökonomischen Struktur ausdrückt. Dafür wird noch kein äußerliches Spiegelbild verlangt. Die Tendenz, dafür ein äußeres Spiegelbild zu verlangen, tritt erst auf mit dem fünfzehnten nachchristlichen Jahrhundert. Studieren Sie die Geschichte, wie sie wirklich ist, nicht wie die Legenden sind, die fabriziert worden sind innerhalb unserer sogenannten Geschichtswissenschaft, so werden Sie das auch äußerlich bewahrheitet finden, was ich Ihnen aus okkulten Gründen mitgeteilt habe über das Sklaventum in Griechenland, ohne dessen Dasein die griechische Kultur, die wir so bewundern, undenkbar ist. Es ist als in der sozialen Struktur befindlich nur zu denken, wenn man weiß: Diesen ganzen vierten nachatlantischen Zeitraum beherrscht das Streben, außen eine Gesetzes- und religiöse Einrichtung zu haben, aber noch keine andere als eine instinktive ökonomische Ordnung.

Und erst unser Zeitraum, die Zeit, die aber erst mit dem fünfzehnten nachchristlichen Jahrhundert beginnt, fordert, den ganzen dreigliedrigen Menschen im Bilde auch in der sozialen äußeren Struktur zu sehen, in der er sich drinnen befindet.

So müssen wir heute studieren den dreigliedrigen Menschen, weil er den dreigliedrigen Instinkt entwickelt, in der äußeren Struktur, in der gesellschaftlichen Struktur das zu haben, was ich Ihnen gesagt habe: erstens ein geistiges Gebiet, das Selbstverwaltung, Selbststruktur hat; zweitens ein Verwaltungsgebiet, ein Sicherheits- und Ordnungsgebiet, ein politisches Gebiet also, das wiederum in sich selbständig ist, und drittens ein ökonomisches Gebiet; und dieses ökonomische Gebiet in äußerlicher Organisation fordert erstmals unser Zeitalter. Den Menschen verwirklicht zu sehen im Bilde der sozialen Struktur, das tritt als ein Instinkt erst in unserem Zeitalter auf. Das ist der tiefere Grund, warum nicht mehr ein bloßer ökonomischer Instinkt wirkt, sondern warum diejenige ökonomische Klasse, die erst geschaffen worden ist, das Proletariat, dahin strebt, so bewußt äußerlich die ökonomische Struktur einzurichten, wie der vierte nachatlantische Zeitraum die Verwaltungsstruktur des Gesetzeswesens, und der dritte nachatlantische Zeitraum, der ägyptisch-chaldäische, die theokratische Struktur eingerichtet hat.

Dies ist der innere Grund, meine lieben Freunde. Nur wenn Sie auf diesen inneren Grund hinschauen, können Sie die Verhältnisse in der Gegenwart richtig beurteilen. Dann werden Sie auch verstehen, warum ich Ihnen heute vor acht Tagen diese dreigliedrige soziale Ordnung vorlegen mußte. Sie ist wahrhaftig nicht erfunden, wie eben heute von unzähligen Gesellschaften Programme erfunden werden, sondern sie ist aus den Kräften heraus gesprochen, die man beobachten kann, wenn man auf die Wirklichkeit der Evolution geht. Das muß erreicht werden, daß man wirklich konkret und objektiv die Evolutionsimpulse, die in der Entwickelung der Menschheit sind, versteht.