Trennung von Arbeit und Einkommen heißt auch Abschaffung von Erbschaft und Zinseszins

Quelle: GA 186, S. 046-051, 3. Ausgabe 1990, 30.11.1918, Dornach

Der Mensch muß sich kleiden. Dasjenige, was er anzieht, müssen Leute arbeiten. Damit ich einen Rock anziehen kann oder ein Beinkleid, müssen Menschen stundenlang ihre Arbeitskraft verwenden, das zustandezubringen. Die arbeiten für mich. Davon lebe ich, nicht von meinem Gelde. Mein Geld hat keinen andern Wert, als daß es mir die Macht gibt, des andern Arbeit zu benützen. Und so wie die sozialen Verhältnisse heute liegen, fängt man erst an, Interesse für seine Mitmenschen zu haben, wenn man sich diese Frage in der entsprechenden Weise beantwortet, wenn man im Geiste sieht, soundso viele Menschen müssen soundso viele Stunden arbeiten, damit ich in der sozialen Struktur drinnen leben kann. Nicht darum handelt es sich, daß man sich selber wohltut, indem man sich sagt: Ich liebe die Menschen. - Man liebt nicht die Menschen, wenn man glaubt, man lebe von seinem Gelde, und sich nicht im geringsten vorstellt, wie die Menschen für einen arbeiten, damit man nur des Lebens Minimum überhaupt hat.

Aber dieser Gedanke, soundso viel Leute arbeiten, damit man des Lebens Minimum hat, der ist ja untrennbar von dem anderen Gedanken, daß man das wiederum der Sozietät zurückgeben muß, nicht durch Geld, sondern wiederum durch Arbeit, was für einen gearbeitet wird. Und erst, wenn man sich verpflichtet fühlt, das Quantum von Arbeit, das für einen geleistet wird, auch wiederum zurückzuarbeiten in irgendeiner Form, erst dann hat man Interesse für seine Mitmenschen. Daß man seinen Mitmenschen sein Geld gibt, das bedeutet nur, daß man die Mitmenschen am Gängelbande, am Sklavenbande führen kann, sie zwingen kann, daß sie für einen arbeiten. Können Sie sich aus Ihrer Erfahrung nicht selbst die Antwort geben auf die Frage: Wie viele Menschen bedenken, daß Geld nur eine Anweisung auf menschliche Arbeitskraft, daß Geld nur ein Machtmittel ist? Wie viele Menschen sehen im Geiste, daß sie gar nicht da sein könnten in dieser physischen Welt, ohne daß sie der Arbeit der anderen Menschen das, was sie selbst beanspruchen für ihr Leben, verdanken? - Sich verschuldet fühlen der Gesellschaft, in der man drinnen lebt, das ist der Beginn jenes Interesses, das verlangt werden muß für eine gesunde soziale Gestaltung.

Diese Dinge muß man sich schon einmal überlegen, sonst steigt man in ungesunder Weise in spirituelle Abstraktionen auf und nicht in einer gesunden Weise von der physischen Wirklichkeit zur geistigen Wirklichkeit. Der Mangel an Interesse für die soziale Struktur, der charakterisiert gerade die letzten Jahrhunderte. Denn in den letzten Jahrhunderten hat sich allmählich als menschliche Gewohnheit herausgebildet, daß die Menschen eigentlich nur für ihre eigene werte Persönlichkeit in bezug auf soziale Impulse Interesse entwickeln. Mehr oder weniger war alles auf Umwegen nur für ihre eigene Persönlichkeit. Gesundes soziales Leben ist nur möglich, wenn dieses Interesse für die eigene werte Persönlichkeit erweitert wird zum wirklichen sozialen Interesse. Und in dieser Beziehung darf schon die Bourgeoisie sich fragen: Was haben wir versäumt? [...]

Nun werden Sie eine Frage herausspringen sehen aus alledem, was ich jetzt aus einzelnen Beispielen, die nicht verhundertfacht, sondern vertausendfacht werden könnten, angeführt habe, die Frage: Ja, wie kann denn das anders werden, wenn das Geld eigentlich nur ein Machtmittel ist? - Das liegt schon beantwortet in jenem sozialen Urgrundsatz, über den ich letzte Woche hier gesprochen habe; denn das ist das Eigentümliche desjenigen, was ich Ihnen als eine Art Sozialwissenschaft, die aus der geistigen Welt heraus geschöpft ist, angeführt habe, daß sie so sicher ist wie die Mathematik. Bei diesen Dingen handelt es sich nicht darum, daß irgend jemand nun ins praktische Leben hineinschauen und sagen kann: Na, wir müssen erst nachsehen, ob die Dinge so richtig sind. - Nein, die Dinge, die ich Ihnen als eine soziale Wissenschaft aus der Geisteswissenschaft heraus angeführt habe, die sind ungefähr so wie der pythagoräische Lehrsatz. Wenn Sie den pythagoräischen Lehrsatz nehmen, wenn Sie wissen, daß der Inhalt des Quadrats der Hypotenuse gleich ist der Summe der Quadrate der beiden Katheten, so kann es keine Erfahrung geben, die dem widerspricht, sondern Sie müssen überall diesen Grundsatz anwenden. So ist es mit dem Grundsatz, den ich Ihnen als den Grundsatz der sozialen Wissenschaft und des sozialen Lebens angeführt habe. Alles, was der Mensch so erwirbt, daß er es für seine Arbeit im sozialen Zusammenhange erhält, das wird zum Unheil. Heilsamkeit ergibt sich im sozialen Zusammenhange nur, wenn der Mensch nicht von seiner Arbeit, sondern aus anderen Quellen der Sozietät sein Leben zu fristen hat. Scheinbar widerspricht das dem, was ich soeben gesagt habe, aber eben nur scheinbar. Das gerade wird die Arbeit wertvoll machen, daß sie nicht mehr entlohnt wird. Denn worauf hingearbeitet werden muß, selbstverständlich vernünftig, nicht bolschewistisch, das ist: die Arbeit zu trennen von der Beschaffung der Existenzmittel. Das habe ich ja neulich ausgeführt. Wenn jemand nicht mehr für seine Arbeit entlohnt wird, dann verliert das Geld als Machtmittel für die Arbeit seinen Wert. Es gibt kein anderes Mittel für jenen Mißbrauch, der getrieben wird mit dem bloßen Gelde, als wenn überhaupt die soziale Struktur so geschaffen wird, daß niemand für seine Arbeit entlohnt werden kann, daß die Beschaffung der Existenzmittel von ganz anderer Seite her bewirkt wird. Dann können Sie natürlich nirgends erreichen, daß jemand durch das Geld in die Arbeit gezwungen werden kann.

Die meisten von den Fragen, die jetzt auftauchen, tauchen eben so auf, daß sie konfus angefaßt werden. Sollen sie in die Klarheit gehoben werden, so kann das nur durch die Geisteswissenschaft geschehen. Geld darf in der Zukunft kein Äquivalent sein für menschliche Arbeitskraft, sondern nur für tote Ware. Nur tote Ware wird man in Zukunft bekommen für Geld, nicht menschliche Arbeitskraft. Das ist von ungeheurer Wichtigkeit, meine lieben Freunde. Und jetzt bedenken Sie einmal, daß gerade aus der proletarischen Weltanschauung das in der verschiedensten Gestalt herausspringt, daß Arbeitskraft im modernen Industrialismus in erster Linie eine Ware ist. Das ist ja einer der Grundsätze des Marxismus, einer derjenigen Grundsätze, mit denen er am meisten Proselyten gemacht hat unter den Proletariern. Da sehen Sie, daß von einer ganz anderen Ecke konfus und verworren eine Forderung auftaucht, die allerdings von ganz anderer Seite her erfüllt werden muß. Und das ist das Eigentümliche bei den sozialen Forderungen der Gegenwart, daß sie, insoferne sie instinktiv auftreten, aus durchaus richtigen und gesunden Instinkten hervorgehen, nur daß sie auftauchen aus einer chaotischen sozialen Struktur und daher konfus auftauchen und daher auch zu Konfusionen führen. So ist es auf vielen Gebieten. Deshalb ist es so notwendig, wirklich eine geisteswissenschaftliche soziale Weltanschauung zu erfassen, weil die allein das wirkliche Heil bringen kann.

Nun werden Sie fragen: Ja, aber wird denn das eine Änderung hervorrufen? Wenn zum Beispiel einer ein bloßer Erbe ist, dann wird er ja auch sich weiter Ware kaufen für das Geld, das er hat oder ererbte, und in den Waren steckt ja schon die Arbeitskraft der andern Leute. Also das ändert sich nicht, werden Sie sagen. Ja, wenn Sie abstrakt denken, so ändert sich nichts. Aber wenn Sie hineinschauen würden in die ganze Wirkung dessen, was da geschieht, wenn abgesondert wird die Beschaffung der Existenzmittel von der Arbeit, so werden Sie anders urteilen. Denn in der Wirklichkeit ist es nicht so, daß man bloß abstrakte Konsequenzen zieht, sondern da haben die Dinge auch ihre realen Wirkungen. Wenn es wirklich so sein wird, daß die Existenzmittelbeschaffung abgetrennt wird von der Arbeitsleistung, dann gibt es nämlich keine Erbschaften mehr. Das bewirkt eine solche Änderung der Struktur, daß man kein Geld hat anders als zur Warenbeschaffung. Denn wenn eine Sache real gedacht wird, so hat sie nämlich allerlei Wirkungen. Unter anderem hat diese Trennung der Beschaffung der Existenzmittel von der Arbeit eine sehr eigentümliche Wirkung. Wenn man von Realitäten spricht, so kann man nicht so sprechen, daß Sie dann vielleicht sagen: Das sehe ich nicht ein. - Da könnten Sie auch sagen: Ich sehe nicht ein, warum Morphium schlaferzeugend ist. - Das folgt ja auch nicht aus einem bloßen Begriffszusammenhange, das zeigt sich Ihnen nur, wenn Sie die Wirkungen verfolgen.

Es gibt heute etwas höchst Unnatürliches in der sozialen Ordnung, das besteht darin daß das Geld sich vermehrt, wenn man es bloß hat. Man legt es auf eine Bank und bekommt Zinsen. Das ist das Unnatürlichste, was es geben kann. Es ist eigentlich ein bloßer Unsinn. Man tut gar nichts; man legt sein Geld, das man vielleicht auch nicht erarbeitet, sondern ererbt hat, auf die Bank und bekommt Zinsen dafür. Das ist ein völliger Unsinn. Die Notwendigkeit wird aber eintreten, wenn die Existenzmittelbeschaffung getrennt wird von der Arbeit, daß Geld verwendet wird, wenn es da ist, wenn es erzeugt wird als Äquivalent der Waren, die da sind. Es muß verwendet werden, es muß zirkulieren. Denn die reale Wirkung wird eintreten, daß Geld sich nicht vermehrt, sondern daß es sich vermindert. Wenn heute einer eine bestimmte Summe Vermögen hat, so hat er in ungefähr vierzehn Jahren bei einer normalen Verzinsung fast das Doppelte, er hat nichts getan, hat nur gewartet. Wenn Sie sich so denken die Umänderung der sozialen Struktur, wie sie unter dem Einfluß dieses einen Grundsatzes, den ich Ihnen angeführt habe, geschehen muß, so vermehrt sich das Geld nicht, sondern vermindert sich, und nach einer bestimmten Anzahl von Jahren hat der Geldschein, den ich eben vor diesen Jahren erworben habe, keinen Wert mehr; er ist entwertet, er hört auf, einen Wert zu haben.

Dadurch wird die Bewegung eine natürliche in der sozialen Struktur, daß solche Verhältnisse eintreten, daß das bloße Geld, das ja nichts weiter ist als ein Schein, eine Anweisung, daß man eine gewisse Macht hat über die Arbeitskräfte der Menschen, nach einer bestimmten Zeit entwertet ist, wenn es nicht in die Zirkulation geführt wird. Also nicht vermehren wird es sich, sondern es wird sich progressiv vermindern und wird nach vierzehn Jahren oder vielleicht nach einer etwas längeren Zeit absolut gleich Null sein. Sie werden, wenn Sie heute Millionär sind, nach vierzehn Jahren nicht ein doppelter Millionär sein, sondern Sie werden ein armer Schlucker sein, wenn Sie in der Zeit nichts Neues erworben haben.

Wenn man das in der Gegenwart noch ausspricht, so wird das zuweilen so empfunden, als ob einen gewisse Tiere juckten, wenn ich den Vergleich gebrauchen darf. Ich weiß das, ich würde den Vergleich nicht gebraucht haben, wenn ich nicht die merkwürdigen Bewegungen im Auditorium wahrgenommen hätte. Aber weil das so ist heute, daß man die Sache so empfindet, als wenn einen gewisse Tiere juckten, daher der Bolschewismus.