Vorteile der Ständeordnung kehren sich in Gegenteil um

Quelle: GA 185a, S. 111-114, 3. Ausgabe 2004, 17.11.1918, Dornach

Aus der Urweisheit heraus, die auf atavistische Art, wie ich es Ihnen öfter auseinandergesetzt habe, von der Menschheit erworben worden ist, in vollbewußter Art aber wiederum errungen werden muß vom Zeitalter der Bewußtseinsseele, aus dieser Urweisheit heraus hat Plato den Menschen dreigegliedert. Das sieht man heute als etwas Kindliches an. Das ist aber aus einer sehr tiefen Weisheit heraus, aus einer Weisheit, die wahrlich tiefer ist als dasjenige, was heute über den Menschen, sei es von Naturwissenschaft, sei es von Nationalökonomie oder von anderen Wissenschaften an unseren Universitäten gelehrt wird.

Plato hat den Menschen dreigeteilt. Wir gliedern heute etwas anders, aber man hat ein Bewußtsein dieser Dreiteilung noch bis in das achtzehnte Jahrhundert hinein gehabt. Dann ist es erst ganz verlorengegangen.

Und die Menschen des neunzehnten Jahrhunderts, diese so gescheiten, so aufgeklärten Menschen haben über diese Dreiteilung in ihrer konkreten Form nur gelacht, lachen bis heute. Plato teilte den Menschen, den man verstehen muß, wenn man die gesellschaftliche Struktur verstehen will, zunächst in den Menschen, welcher die Weisheit entfaltet, Erkenntnis, Wissen, den logischen Teil der Seele, dasjenige, was wir an den Kopf-Organismus knüpfen, als sein Wissen an seinen Sinnes- und Nerven-Organismus knüpfen. Plato unterschied dann den sogenannten tatkräftigen, zornmütigen Teil der Seele, den irasziblen, den mutigen, tapferen Teil der Seele, alles dasjenige, was wir an das rhythmische Leben knüpfen. Sie brauchen nur in meinem Buch «Von Seelenrätseln» nachzulesen. Dann unterschied er den, Begierdemenschen, den Menschen, insoferne er Quell des Begehrungsvermögens ist, alles das, was wir jetzt in viel vollkommenerer Form kennen; das konnte Plato knüpfen physisch an den Stoffwechsel, spirituell an die Intuition, so wie wir sie meinen in unserer Dreigliederung des höheren Erkenntnisvermögens: Imagination, Inspiration, Intuition. Man kann nicht verstehen, was in der gesellschaftlichen Struktur der Menschheit vorgeht und wie sich die gesellschaftlichen Strukturen ausleben, wenn man den Menschen nicht selbst kennenlernt nach dieser seiner dreigliedrigen Beschaffenheit. Denn der Mensch ist ja nicht so in der Welt, in der er als Angehöriger des physischen Planes ist, daß er diese drei Glieder auch in bezug auf ihre inneren, intimen Gestaltungen und Eigenschaften gleichmäßig ausbildet, sondern er bildet sie in verschiedener Art aus; der eine bildet den einen Teil mehr aus, der andere bildet den anderen Teil mehr aus. Und auf der verschiedenartigen Ausbildung der Teile beruht namentlich die Heranbildung der Klassen, wie sie sich im Laufe der Entwickelung der europäischen Menschheit mit ihrem amerikanischen Anhang ergeben hat.

Man kann sagen: Der Teil, der hauptsächlich das rhythmische Leben ins Auge faßte, der Erziehung, Zusammenleben, soziale Anschauung so einrichtete, daß das rhythmische Leben dabei dasjenige war, was man vorzugsweise als das Menschliche fühlte, das ist der Stand oder die Klasse, die sich als der alte Adelsstand herausgebildet hat. Wenn Sie sich denken eine gesellschaftliche Struktur, entstanden dadurch, daß Menschen hauptsächlich sich fühlten als Brustmenschen, dann haben Sie dasjenige, was die Gruppe des Adels, der Adelsklasse ausmacht. Wenn Sie sich denken diejenigen Menschen, welche vorzugsweise die Kopfkräfte, den weisen Teil ausbilden - jetzt sage ich auch einmal etwas, was vielleicht versöhnen kann mit mancherlei, was ich gesagt habe -, diejenigen Menschen, die in der Klasse zusammengeschlossen waren, die vorzugsweise den weisen Teil ausbildet, den Kopf, den Sinnes- und Nerventeil, so ist das diejenige Gruppe, die sich allmählich zusammengeschlossen hat im Bürgerstande, in der Bourgeoisie. Diejenigen Menschen, die ja heute die weitaus zahllosesten bilden, die sich vorzugsweise zusammengeschlossen haben in alledem - Sie wissen aber, die Intuition hängt geistig mit dem Stoffwechsel zusammen -, das seinen Quell im Wollen, im Stoffwechsel hat, das ist das Proletariat. So daß tatsächlich die Menschen sozial so gegliedert sind, wie der Mensch im einzelnen gegliedert ist.

Nun muß man allerdings die besondere Natur des menschlichen Zusammenschlusses erkennen. Und in dieser Beziehung ist geradezu für das Bewußtsein, für die Vorstellungsgewinnung der Menschen noch alles zu tun, denn in bezug auf das, was ich jetzt meine, hat gerade die moderne Menschheit die allerverkehrtesten Vorstellungen. Diese moderne Menschheit hat es ja sogar dahin gebracht, sich vorzustellen, daß der Mensch als einzelnes Wesen weniger vollkommen ist denn als Staatstier, daß der Mensch etwas gewinne dadurch, daß er Glied eines Staatswesens wird, und es wird sehr schwer werden, in die Köpfe die Vorstellung hineinzubringen, daß der Mensch dadurch, daß er sich in einen staatlichen Organismus hineingliedert, nichts gewinne, sondern verliert. So verliert er auch, indem er sich in Stände hineingliedert, in Klassen hineingliedert. Dasjenige, was der Mensch im einzelnen entwickelt, das wird dadurch, daß es in der sozialen Struktur in der Mehrheit lebt, nicht etwa gefördert, sondern es wird abgelähmt, es wird unterdrückt.

So unterdrücken die Traditionen, die Vorstellungen der Adelskaste die urindividuellen Kräfte des Brustmenschen. Also nicht, daß sie sie fördern, sondern sie unterdrücken sie, sie lähmen sie zurück. Darauf kommt es an. Es kommt darauf an, einzusehen, daß zwar in der Gruppe der adeligen Menschen diejenigen Menschen vereinigt sind, deren Seelen bei einer Verkörperung vorzugsweise hintendieren nach dem Brustmenschen, daß aber die äußere Vereinigung auf dem physischen Plan ablähmt dasjenige, was aus dem Brustmenschen herauskommen würde. Es würde zu weit führen, wenn ich Ihnen das im einzelnen zeigen würde. Aber nehmen Sie nur einmal an, daß zum Beispiel das, was Ehrgefühl ist, sich auf ganz individuelle Weise aus dem Brustmenschen heraus entwickelt; der äußere Ehrbegriff aber, der ist gerade dazu da, das Äußere zu schaffen, damit das Innere schlafen kann. Alle Zusammenfügung ist eigentlich dazu da, auf äußerliche Weise etwas zu konstituieren, damit das Innerliche, Ursprüngliche, Elementare schlafen kann. Ich brauche nicht wiederum an Roseggers Ausspruch, den ich ja schon oft angeführt habe, zu erinnern: Oaner is a Mensch Mehre san Leit und Vüle san Viecher. - Der Mensch ist tatsächlich dasjenige, was er ist, aus den elementaren Kräften heraus als Individualität. Das versuchte ich auch in wissenschaftlicher Grundlegung zu zeigen in meiner «Philosophie der Freiheit».

Alles dasjenige nun, wonach das moderne Proletariat strebt, das ist nicht geeignet, das, was in ihm gerade elementar wirkt, zur Vollendung zu bringen, sondern es geradezu zu unterdrücken, es in den Hintergrund zu drängen, abzulähmen. Und heute ist die Zeit, wo man so etwas einsehen muß, wo man nur weiterkommt, wenn man die Dinge durchschaut. Denn die instinktiven Kräfte - das habe ich öfter ausgeführt -, die wirken nicht mehr. Und die Bourgeoisie - jetzt kommt die Kehrseite der Sache -, die ist in ihrem Zusammenschlusse hauptsächlich dagewesen, um herabzulähmen die Weisheit. Die Menschen haben sich schon zusammengefunden in der Bourgeoisie, deren Seelen hineingestrebt haben, um den Kopfmenschen auszubilden; aber namentlich die sogenannte Wissenschaftlichkeit der sozialen Bourgeoisie, die hat eine solche Struktur bewirkt, daß der Kopfmensch möglichst kopflos geworden ist. Und er erweist sich ja immer mehr und mehr gegenüber dem Anstürmen der neueren Zeit als ein recht kopfloses Wesen.