Individualismus und demokratische Nivellierung aus Bewußtseinsseele

Quelle: GA 185, S. 036-037, 2. Ausgabe 1962, 19.10.1918, Dornach

Nicht wahr, in dieser Zeit des Bewußtseinszeitalters, da verliert die Persönlichkeit denjenigen Wert, den sie früher kraft der Instinkte gerade dadurch gehabt hat, daß sie eigentlich als selbstbewußte Persönlichkeit nicht ausgebildet war. Die Persönlichkeit lebte sich dar in früheren Zeitaltern, man möchte sagen, mit elementarer Kraft, mit einer vermenschlichten, verseelten - man wird mich nicht mißverstehen, wenn ich das sage - tierischen Kraft. Instinktiv lebte sich die Persönlichkeit dar, noch nicht herausgeboren aus dem Gruppenseelentum, noch nicht ganz herausgeboren. Und jetzt sollte sie sich emanzipieren, sollte sich auf sich selbst stellen. Dadurch ergibt sich gerade für die Persönlichkeit ein ganz merkwürdiger Widerspruch. Auf der einen Seite wird alles das, was früher da war für das individuellpersönliche Ausleben, abgestreift, die Instinkte werden hinabgelähmt, und im Innern der Seele soll sich das Zentrum des Persönlichen allmählich gestalten. Die Seele soll vollinhaltliche Kraft gewinnen.

Daß ein Widerspruch vorhanden ist, Sie sehen es vor allen Dingen an dem, was ich schon gestern sagte. Während man früher, in den Zeitaltern, in denen die Persönlichkeit noch nicht geboren war als selbstbewußte Persönlichkeit, produziert hat, der Kulturentwickelung produktive Kräfte einverleibt hat, hört das jetzt auf. Die Seele wird steril. Und dennoch stellt sie sich in den Mittelpunkt des Menschen, denn darinnen besteht das Persönliche, daß die Seele sich auf sich selbst, in den Mittelpunkt der Persönlichkeit der Menschenwesenheit stellt. So daß solche überragenden Persönlichkeiten, wie sie dem Altertum eigen waren, Augustus, Julius Cäsar, Perikles - wir könnten alle möglichen nennen - nicht mehr möglich werden. Gerade das Elementare der Persönlichkeit verliert an Wert, und es taucht auf das, was sich später demokratische Gesinnung nennt, die die Persönlichkeit nivelliert, die alles gleichmacht. Aber gerade in diesem Gleichmachen will die Persönlichkeit erscheinen. Ein radikaler Widerspruch!

[...] Aber im Zeitalter der Persönlichkeit will jeder eine Persönlichkeit sein. Das ist der radikale Widerspruch, der sich ergibt im Zeitalter der Persönlichkeit, das müssen wir nicht vergessen. Im Zeitalter der Persönlichkeit ist es nicht so, daß man zum Beispiel die Königs-Idee oder die Papst-Idee ablehnt. Es ist ja nicht darum zu tun, daß kein Papst oder kein König da sei. Nur möchte, wenn schon ein Papst oder ein König da ist, jeder ein Papst und jeder König sein, dann wären gleichzeitig Papsttum, Königtum und Demokratie erfüllt.