Nationalismus als Sackgasse

Quelle: GA 073, S. 343-351, 2. Ausgabe 1987, 17.10.1918, Zürich

Wir sehen als hervorragendsten Impuls z.B. den nationalen, der sich gründet nicht auf die Nationszusammengehörigkeit - wie man es heute vielfach identifiziert sieht als Staatszusammengehörigkeit aufgefaßt -, sondern der sich gründet auf das Nationale, insofern es sich auf natürlichen Untergründen der menschlichen Natur aufbaut. Wir sehen ihn als einen, der aufgenommen wird vom Menschen, ohne daß der Mensch ihn von innen heraus produziert. Der Mensch ist Franzose oder Engländer durch seine Natur. Und indem er sich, schauend die geschichtliche Konfiguration, auf seine Nationalität bezieht, bezieht er sich nicht auf etwas, das er in seinem Geiste produziert, sondern er bezieht sich auf etwas, das er in seinem Geiste bloß von außen aufnimmt!

Vergleicht man das, was da in das geschichtliche Werden mit dem nationalen Prinzip eintritt, mit den früheren Impulsen, dann kommt man darauf, wie unendlich viel näherliegend in bezug auf das Produktive der Menschennatur alle die Impulse sind, die wir aufeinanderfolgend in der Griechenzeit, in der römisch-lateinischen Zeit in die Menschheit hineindringen sehen. Und insofern man zu einem Neuen greift, nimmt man etwas, was man nicht selbst produziert, in der neueren Entwicklung auf, etwas, was von außen an den Menschen herantritt. [...]

Es wird nicht in der gleichen Weise wie früher aus der Seele heraus ein Neues produziert und dem geschichtlichen Leben übergeben, sondern es wird das Alte produziert und konserviert, all das, was da ist, ohne daß der Mensch etwas dazu tut, und es wird nur der Mensch in ein neues Verhältnis dazu gebracht. [...]

Dasjenige, was aus dem Dreißigjährigen Krieg hervorgegangen ist, das führte später dann zu dem großen königlichen Glanze von Frankreich. Wir sehen die königliche Macht Frankreichs Europa überstrahlen in der folgenden Zeit.

Und wiederum, in dem Schoße desjenigen, was da sich herausbildet, was fortpflanzt den alten nationalen Impuls, gerade im eminentesten Sinne fortpflanzt, in dem erwächst etwas, was weit über das bloße Nationale hinausgeht, was gewissermaßen das Nationale sprengt. Es erwächst dasjenige, was später sich auslebt in der Französischen Revolution: die Persönlichkeit. Die rein auf sich selbst gestellte menschliche Persönlichkeit will sich emanzipieren aus dem Zwange derjenigen Gemeinschaft, die nun auch nicht aus irgendeinem produktiven Impuls genommen ist, sondern die aus der Natur, aus der menschlichen Umgebung heraus von der menschlichen Seelenverfassung aufgenommen worden ist. Und wiederum sehen wir, wenn wir hinblicken auf das, was sich symptomatisch vollzieht, wie dann herauswächst, ganz unorganisch, könnte man sagen, ohne daß irgendeine Motivierung da ist, Napoleon, wie der Testamentvollstrecker der Französischen Revolution. [...]

Wir sehen nämlich entstehen aus jenem Glanze, der sich durch das Nationalwerden des französischen Staates entwickelt hat, ein Art Anspruch, weiter und weiter gehen.

Gewertet soll nicht werden; nicht mit Sympathie oder Antipathie sollen diese Dinge verfolgt werden, sondern ganz objektiv. Aber wir sehen, wie sich durch den Zusammenhang desjenigen, was da im Westen entsteht, mit dem, was weiter nach Osten läuft, etwas entwickelt, was von den Einsichtigen in der Zeit, in der es geschehen ist - ganz gleichgültig, wie sie sich zu dem, ob es hat geschehen sollen oder nicht, gestellt haben -, als ein unlösbares, zunächst unlösbares europäisches Problem angesehen worden ist. Man kann dabei sogar ganz absehen, ob Elsaß vorher bei Frankreich war oder nachher bei Deutschland - aus dem europäischen Leben heraus entwickelt sich dasjenige, was man heute kennt als die elsässische Frage. [...]

Und man sollte es eigentlich als etwas außerordentlich Bedeutsames ansehen und fühlen, insbesondere in diesen Tagen, wie etwas wie Unlösbares gegeben ist in der Art und Weise, wie sich Mitteleuropa stellen muß zu Westeuropa wegen einer Frage, die nach gewissen geschichtlichen Voraussetzungen in der Weise und in der anderen Weise gelöst gefordert werden kann, eine Frage, die entsprungen ist aus dem, was in Frankreich als nationaler Impuls sich herausgebildet hat, die aber, wenn man sie national lösen will, nicht gelöst werden kann. [...]

Wir sehen, wie der Mensch für die erste Erziehung zu dieser Bewußtseinsseele hin nötig hat, daß sich in seiner Umgebung gerade auch in seine Kultur wirksam für ihn hineinstellen die Verfallssymptome, die Symptome des Absterbelebens! Man wird das neuere geschichtliche Leben in seinem wirklichen Verhältnis zum Menschen nicht verstehen, wenn man nicht den Gedanken fassen kann, trotz aller Bewunderung, trotz aller willigen Anerkennung, die man haben muß für die großen gewaltigen Errungenschaften der modernen Technik, der modernen nationalen Impulse: daß in all dem absteigendes, zum Tode des geschichtlichen Werdens hinführendes Leben sein muß, und daß hineingeboren werden muß in dieses absteigende Leben ein aufsteigendes, ein geboren werdendes, ein sprießendes, sprossendes Leben.

Was in der neueren Zeit als Impulse eingreift, das ist ja nichts, was aus der menschlichen Seele herauspulsiert. Das erste, was uns aufgefallen ist, ist ja die nationale Idee, wie man es oftmals nennt, man müßte sagen, der nationale Impuls. Der wird nicht aus der Menschenseele produktiv herausgeboren, sondern der liegt in dem, was wir vererbt erhalten haben; der liegt in dem, was wir vorfinden. Es ist etwas ganz anderes, was, sagen wir, durch die zahlreichen geistigen Impulse im Griechentum auftritt. Dieser nationale Impuls, der ist ein Pochen auf etwas, was da ist wie ein Naturprodukt; da produziert der Mensch nichts aus seinem Innern heraus, wenn er sich als Angehöriger einer Nationalität betrachtet -, sondern er weist nur darauf hin, daß er in einer gewissen Weise gewachsen ist, wie eine Pflanze wächst, wie ein Naturwesen wächst.

So spüren Sie, wenn Sie nur wollen, was da waltet und wirkt. So sehen Sie, wie dieser Bewußtseinsimpuls durch seine Kraft gewissermaßen wie der Zauberlehrling heraufruft nationale Impulse, die sich in der verschiedensten Weise in die Menschheit hinein verpflanzen und hinein nuancieren.