Sexualisierung der Politik durch Sprache

Quelle: GA 180, S. 154-165, 2. Ausgabe 1980, 05.01.1918, Dornach

Zurückgeblieben ist unter anderem auch das begierden- und gefühlsmäßige Hängen am Nationalen; das Hängen am Nationalen, das chauvinistische Drängen zum Nationalen, das ist der zurückgebliebene Rest desjenigen, was in alten Zeiten eben in ganz anderen Verhältnissen gedacht werden konnte [...] Was drückt sich aus in dem nationalen Pathos? [...] Was lebt darinnen? Genau dasselbe, was im Sexuellen lebt - nur im Sexuellen auf andere Weise, im nationalen Pathos wiederum auf andere Weise. Es ist der sexuelle Mensch, der sich auslebt durch diese zwei verschiedenen Pole. Chauvinistisch sein - könnte man sagen - ist nichts anderes als: gruppenmäßig Sexualität entwickeln [...] Wo die sexuellen Essenzen in dem, was sie zurückgelassen haben, die Menschen mehr ergreifen, da ist mehr nationaler Chauvinismus vorhanden, denn es ist dieselbe Kraft, die in der Fortpflanzung liegt, die auch im nationalen Pathos sich äußert. Daher ist der Schlachtruf von der sogenannten Freiheit der Völker oder der Nationen etwas, was durchaus richtig erst betrachtet wird in seinen intimeren Zusammenhängen, wenn man - aber mit vornehmem Sinn selbstverständlich - sagen würde: Der Ruf nach Wiederherstellung des Nationalen im Lichte eines sexuellen Problems. Daß das sexuelle Problem in einer ganz besonderen Form heute über die Erde hin verkündet wird, ohne daß die Leute eine Ahnung haben, wie aus ihrem Unterbewußtsein das Sexuelle in die Worte sich kleidet: Freiheit der Völker, das ist dasjenige, was als ein Geheimnis der Zeitimpulse angesehen werden muß [...] Solche Wahrheiten dürfen in unserer Gegenwart nicht mehr hinter Schloß und Riegel gehalten werden.

Es konnte eine alte Zeit von Nationen sprechen, als man die Nationen so vorstellte, daß die eine Nation ihren Schutzgeist im Orion, die andere in einem andern Stern hatte, und man wußte: man werde sich nach den Sternenkonstellationen regeln. Da appellierte man gewissermaßen an die Himmelsordnung. Heute, wo solche Himmelsordnung nicht vorhanden ist, da ist das Appellieren an das bloß Nationale, das chauvinistische Appellieren an das bloß Nationale, also das Geltendmachen eines im eminentesten Sinne Psychisch-Sexuellen, ein zurückgebliebener luziferischer Impuls.

Will man klar und deutlich dasjenige sehen, was heute ist, so darf man eben nicht zurückschrecken vor den wirklichen Untergründen der Wahrheit. Aber man kann aus solchen Dingen auch sehen, warum sich die Menschen so fürchten vor der Wahrheit. Man stelle sich nur vor, daß die Menschen heute bei dem Geschrei, das sich über Freiheit der Nationen und dgl. erhebt, hören sollten: das geschieht aus sexuellen Impulsen heraus. Man stelle sich das vor! Man stelle sich einmal den krähenden Hahn vor [...], ich meine jetzt keinen einzelnen, ich meine nicht gerade bloß Clémenceau - man stelle sich vor all die Deklamatoren über die entsprechenden Themata [...] und man stelle sich vor: sie müßten begreifen, daß dasjenige, was sie krähen, im Grunde genommen doch die Balzstimme des Hahnes ist, wenn es auch noch so fein national eingekleidet ist!