Spencer: Nervensystem und Militarismus am wertvollsten

Quelle: GA 072, S. 160-167, 1. Ausgabe 1990, 24.11.1917, Basel

Daraus aber wird Ihnen hervorgehen, daß im Menschenleben nicht das allein waltet, was mit dem gewöhnlichen wachen Bewußtsein überschaut wird, sondern daß im Menschenleben, weil Traum, weil Schlaf auch das wache Tagesleben durchzieht, das waltet, was real, wirklich ist, was für das gewöhnliche wache Bewußtsein nicht erreichbar, nicht in Begriffe, nicht in Vorstellungen zu fassen ist, sondern was allein für das schauende Bewußtsein in Begriffe, in Vorstellungen zu fassen ist. Schauen wir uns also das soziale Menschenleben an, schauen wir uns das Menschenleben an, wie es umfaßt werden soll mit den sozialen, sittlichen, politischen Begriffen - wir finden: In diesem Menschenleben lebt, der Wirklichkeit nach, was nur geträumt, was sogar verschlafen wird.

Dies ist das Geheimnis des sozialen Lebens, dies ist selbst das Geheimnis des geschichtlichen Lebens, dies ist das Geheimnis alles desjenigen, was man sittlich-soziales Dasein des Menschen nennen kann. Mit den Begriffen, die an der Naturwissenschaft herangebildet sind, die aus den Denkgewohnheiten der Naturwissenschaft heraufkommen und die ganz und gar allein dem gewöhnlichen wachen Bewußtsein angehören, mit diesen Vorstellungen kann die Geschichte nicht erfaßt werden, mit diesen Vorstellungen kann das sittlich-soziale Leben nicht erfaßt werden.

Ich habe gestern darauf hingewiesen, daß anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft dem Menschen etwas zurückbringen soll, was er verloren hat. Instinktiv, sagte ich, waren in früheren Jahrhunderten und Jahrtausenden die Impulse vorhanden, die die Geisteswissenschaft zum Bewußtsein zu bringen hat. Interessant ist es, von diesem Gesichtspunkte der Menschheitsentwickelung aus einmal das Eingreifen der modernen Naturwissenschaft ins Auge zu fassen. Fragt man nach dieser modernen Naturwissenschaft und ihrer Bedeutung nur so, wie man das heute vielfach tut, so kommt man zu einem vollständig falschen Begriff. Man geht immer davon aus zu glauben, diese Naturwissenschaft sei so geworden, wie sie geworden ist, weil eben die Begriffe, die sie gibt, der reinen Wahrheit entsprechen, der absoluten Wirklichkeit entsprechen. Wer Einsicht hat in die Dinge, weiß, daß die Ansicht ganz wahr ist: Derjenige, der gerade auf naturwissenschaftlichem Boden feststeht, muß zugleich Zweifler, Skeptiker sein, weil er weiß, daß diese naturwissenschaftlichen Begriffe ganz und gar nur einer sehr oberflächlichen Gestalt der Wahrheit entsprechen. Diese naturwissenschaftlichen Begriffe sind nicht aufgetreten in der Menschheitsentwickelung, weil der Mensch durch Jahrtausende dumm und töricht und kindisch war, wie viele glauben, die immer von dem Grundsatz ausgehen, daß wir's «so herrlich weit gebracht» haben, sie sind nicht deshalb entstanden, weil die Menschen so lange kindisch waren und jetzt gerade gescheit geworden sind und eben gescheit bleiben - oder wenigstens es meinen -, so lange die Erde steht. Sondern sie sind aus einem ganz anderen Grunde gekommen.

Blickt man in die Zeiten zurück, wo eine mehr instinktive Erkenntnis auf Natur und Geist zugleich ging, so hatte der Mensch damals auf der einen Seite die Begriffe, die er auf die Natur so anwandte, daß er von Naturgeschehen, von Naturwesenheit sprach, als ob das auch ein Seelisches wäre; und wenn er von seinem Seelischen sprach, so spielten materialistische Vorstellungen herein.

Sogar in unseren Worten von «Geist» und «Seele» liegen noch materialistische Vorstellungen, wenn wir diese Begriffe ganz genau historisch kennen. Der Mensch war noch so zusammengewachsen mit der Natur, daß er sein Seelisches nicht genauer von der Natur unterschied. Die neuere Entwickelung der Menschheitsgeschichte bedeutet, daß der Mensch sich losgelöst hat von dem natürlichen Dasein. Und gerade durch dieses Loslösen ist er darauf gekommen, solche Naturbegriffe zu begründen, wie sie eben den Inhalt der modernen naturwissenschaftlichen Vorstellungsart darstellen, die nichts Seelisches mehr enthalten. Um auf eine solche Stufe der Entwickelung zu kommen, hat der Mensch diese naturwissenschaftlichen Begriffe entwickelt: um seinetwillen. Nicht weil das die einzig seligmachende Wahrheit ist, zu der man endlich einmal gekommen ist, sondern weil der Mensch zu einer gewissen Stufe der Freiheit, der Selbstbestimmung nur dadurch kommen konnte, daß er sich von der Natur losgemacht und Begriffe hingestellt hat, die die Natur umfassen sollen und die nichts der Seele geben können.

Wenn der Mensch solche Naturbegriffe hat, daß er in diesen Naturbegriffen sein Seelisches nicht mehr sehen kann, daß er sich ganz herausgestellt fühlt aus der Natur, wie das in alten Zeiten nicht der Fall ist, wohl aber unter der heutigen naturwissenschaftlichen Weltanschauung, dann muß der Mensch um so mehr hingewiesen werden auf die eigenen Kräfte seines Innern, auf die wir gestern hingewiesen haben. Dann wird sein Selbstbewußtsein erst in rechter Weise erwachen können. Wir sind in einer Übergangsstufe.

Die Naturwissenschaft wird einen Spiritualismus der Auffassung des Seelenlebens heraufbringen. Der naturwissenschaftliche Materialismus hat das große Verdienst, weil er die Natur alles Seelischen entkleidet, den Menschen auf eine hohe Stufe der Selbstbesinnung hinaufzuführen.

Sieht man so die Entwickelung der modernen Naturwissenschaft an, so erscheint sie einem allerdings anders, so erscheint sie einem angelegt - wenn ich den Ausdruck Lessings gebrauchen darf - auf eine «Erziehung des Menschengeschlechts», dann sind die naturwissenschaftlichen Begriffe ausgebildet worden, damit der Mensch nicht mehr, wie früher, in einer mystischen Weise selber die Natur durchseelt, sondern damit er sich freimacht in der Naturanschauung von allem Seelischen, aber um so mehr aus den Tiefen seines eigenen Wesens das herausholen muß, was dieses Seelische durchgeistet, was man im Seelischen als spiritualisiert erblicken kann. Dann kann man, gerade wenn man Geistesforscher ist, in dem berechtigten Materialismus der Naturwissenschaft ein Großes sehen. Und es ist nur eine Verleumdung der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft, wenn man sie irgendwie in einen Gegensatz zur Naturwissenschaft bringt. Im Gegenteil, sie weist auf die große, bedeutsame Rolle hin, welche die naturwissenschaftliche Entwickelung in dem großen Erziehungsprozeß des Menschengeschlechtes durch die Erdengeschichte hindurch hat.

Aber was als naturwissenschaftliche Vorstellung auftritt, was man so hereinbekommt in die Seele als naturwissenschaftliche Vorstellung, das ist eben, gerade weil das wahr ist, was ich eben ausgeführt habe, nicht geeignet, dieses Leben zu umfassen, das wir als das sittlich-soziale Leben bezeichnen können, nicht geeignet, Begriffe, Vorstellungen, Ideen zu bilden, aus denen Handlungen im sittlich-sozialen Leben werden können.

Was der Mensch als Natur überblickt, das überblickt er im wachen Bewußtsein. Was sittlich-soziales Leben, was geschichtliches Erleben ist, das hat nicht solche Impulse zugrundeliegend, wie sie das wache Tagesbewußtsein ganz geeignet für die Ergreifung der Natur hat, sondern das hat solche ideellen Impulse zugrundeliegend, wie sie sonst nur durch das Traumleben zutage treten.

Und so kommt Geisteswissenschaft zu dem sonderbaren Ergebnis, daß geschichtliches Leben der Menschheit, soziales Leben der Menschheit nicht umspannt werden kann von einem Seelenwesen, das an der Naturwissenschaft sich herangebildet hat und nun Geschichte schreiben will nach dem Muster der Naturwissenschaft, Sozialwissenschaft betrachten will nach dem Muster der Naturwissenschaft.

Was hat man an unzulänglichen Begriffen alles gerade in der Gegenwart unter den Eroberungszügen der Naturwissenschaft versucht, um das soziale Leben zu begreifen mit den Erkenntnismitteln, die in der Naturwissenschaft ihre Erfolge haben!

Man braucht sich nur zu erinnern an den englischen Philosophen Herbert Spencer, der in umfassender Weltanschauung alles Tatsächliche, in das der Mensch hineingestellt ist, umfassen wollte, auch die soziologische Gestaltung der Menschheit. Er hat die Begriffe der Embryologie, die Begriffe des Keimeslebens anwenden wollen auf die Gestaltung des Gesellschaftslebens, auf die Gestaltung des sittlich-sozialen Lebens des Menschen - Der Keim entwickelt sich embryologisch so, daß man an ihm zu unterscheiden hat in seinem früheren Zustande das Ektoderm, aus dem sich das Nervensystem entwickelt, das Entoderm, aus dem sich andere untergeordnete Organe entwickeln, und das Mesoderm.

Aus diesen drei Gliedern entwickelt sich allmählich der Menschen-Embryo, wächst heran: das sind die drei Glieder des Keimes. In dem sittlich-sozialen Werden, in der sittlich-sozialen Entwickelung unterscheidet Spencer auch drei solche Impulse. Er sagt: Ebenso, wie in der natürlichen Entwickelung Ektoderm, Mesoderm, Entoderm vorhanden sind, so auch im sozialen Werden des Menschen. Und er will zeigen: Wie der organische Keim das Ektoderm hat, so entwickelt sich im Menschenwerden das, was militärisch, politisch stark ist, hauptsächlich aber militärisch stark, aus dem Ektoderm heraus, aus dem sozialen Ektoderm; das, was arbeitend, ackerbauend, friedliebend ist, aus dem Entoderm; und die Kaufmannschaft, der kommerzielle Stand, aus dem Mesoderm. Da hat man einen Parallelismus gegeben zwischen den Schichtungen des sozial-sittlichen Lebens und den Schichtungen des organischen Keimes. Es liegt selbstverständlich dieser Anschauung des großen englischen Philosophen Herbert Spencer zugrunde, daß, weil sich aus dem Ektoderm das Nervensystem entwickelt, sich auch aus dem, was dem Ektoderm im sozial-sittlichen Leben entspricht, das Wertvollste im Staate, in einem menschlichen Gemeinwesen entwickeln muß. Daher ist selbstverständlich die Weltanschauung Spencers darauf angewiesen, den eigentlich wertvollen Stand im Militarismus zu sehen. In ihm soll sich das politische, das höhere Leben ausprägen. Wie sich das Nervenleben ausprägt aus dem Ektoderm, soll das Politische, das eigentliche führende Wesen, aus dem Militärwesen hervorgehen.

Ich will mich einer weiteren Charakterisierung, aus leicht begreiflichen Gründen, dieser merkwürdigen Ansicht des Philosophen Herbert Spencer enthalten. Aber es ist schon notwendig, daß man auf solche Dinge auch in der Gegenwart aufmerksam wird. Und ich könnte nun viele, viele aus allen Gebieten des geistigen Erdenlebens hergenommene Beispiele anführen, wie man versucht hat, naturwissenschaftliche Vorstellungen auf das soziale Leben anzuwenden, immer wieder und wiederum das sittlich-soziale Werden zu begreifen in derselben Weise, wie man die Naturtatsachen begreift.

Aber das Eigentümliche liegt vor, daß in der Menschheitsentwickelung das alte instinktive Erkennen, das Geist und Leib, Materie und Geist zugleich umfaßt hat, aber eben nicht voll bewußtes Erkennen war, daß das allmählich im Laufe der Menschheitsentwickelung durch das naturwissenschaftliche rein äußere Erkennen des Toten in die höheren Stufen des Erkennens übergeht, auf die heute die Geisteswissenschaft hinweist: in das imaginative Erkennen des schauenden Bewußtseins, in das inspirierte Erkennen, in das intuitive Erkennen. Naturwissenschaftliche Erkenntnis ist nur eine Zwischenstufe zwischen dem instinktiven Erkennen, das alten Zeiten eigentümlich war, und dem höheren Erkennen, das der Menschheit aus den Tiefen der Seele selbst erwachsen muß. Ich habe es charakterisiert in meinem Buche «Vom Menschenrätsel» und neuerdings wiederum in meinem Buche «Von Seelenrätseln». Das schauende Bewußtsein zerfällt eben in das imaginative Bewußtsein, das gewissermaßen die niederste Stufe ist, das inspirierte Bewußtsein, eine höhere Stufe, und das intuitive Bewußtsein, eine nächste Stufe. Das Eigentümliche ist nur, daß für die Betrachtung der äußeren natürlichen Welt dieses instinktive alte Erkennen in die naturwissenschaftlichen Vorstellungen übergehen mußte. Nach diesem Übergang werden die anderen, die geistigen Erkenntnisarten kommen.

Das sozial-sittliche Leben kann diesen Übergang nicht haben. Er wird versucht; aber es kann ihn nicht haben. Das instinktive Erkennen, das instinktive Leben im Staatlichen, in sozial-politischen Ideen, muß direkt, mit Überspringung der naturwissenschaftlichen Art der Vorstellungsweise, in das bewußte Erkennen derselben Welt übergehen, welche in der Geschichte und im sozialen Leben von der Menschheit geträumt wird. Was die Menschheit träumt in Geschichte und im sozialen Leben - bewußt erkannt werden kann es nur im imaginativen, im inspirierten, im intuitiven Bewußtsein. Und einen Übergang vom instinktiven zum imaginativen Bewußtsein durch das naturwissenschaftliche gibt es auf diesem Gebiete nicht. Verhängnisvoll muß es werden, wenn man diesen Übergang machen will, wenn man in die Gesellschaftsordnung solche Begriffe, solche Vorstellungen einfügen will, welche nach dem Muster naturwissenschaftlicher Begriffe ausgebildet sind. Überall ist das geschehen im Laufe der letzten Jahrhunderte, insbesondere des 19. Jahrhunderts, und bis in unsere Tage herein. Naturwissenschaftliche Vorstellungen sind von katastrophaler Wirkung, wenn sie, aus den menschlichen Gemütern herausströmend, in das menschliche Handeln übergehen. Unmittelbar muß der Übergang sein von dem alten instinktiven Erleben, das zum Mythus, zur Phantasie gegriffen hat, zu dem imaginativen Erkennen.