Staat müßte als Organismus Menschen köpfen

Quelle: GA 174b, S. 226-229, 1. Ausgabe 1974, 13.05.1917, Stuttgart

Lassen Sie mich eine erfreulich-unerfreuliche Erfahrung anführen. Ein sonderbares Wort, nicht wahr, aber es ist schon so. Erfreulich deshalb, weil ich den Namen eines Mannes erwähnen muß, der sehr freundlich meiner Schrift «Gedanken während der Zeit des Krieges» entgegengekommen ist, aus den nördlichen Ländern, ein Mensch, der gerne, soweit er kann, sich in die Welt hineinfindet, Kjellén, der Staatsforscher, der jetzt in Uppsala ist. Ich will nicht den Mann angreifen, nicht abkritisieren, sondern im Gegenteil, ich wähle dieses Beispiel, weil Kjellén einer unserer Freunde ist. Er hat nun ein interessantes Buch geschrieben in der letzten Zeit: «Der Staat als Lebensform.» Da will er darstellen, wie man eine gewisse tiefere Auffassung vom Staate haben könnte. Ja, da versucht nun Kjellén wiederum so eine Art Ansicht zu gewinnen, wie der Staat ein Organismus sein sollte.

Für denjenigen, der nun diese Dinge durchschaut und der aus der geisteswissenschaftlichen Untersuchung heraus weiß, wie eine Staatswissenschaft, wenn es eine solche jetzt gäbe, aufgebaut werden müßte, damit sie fruchtbar werden könnte im praktischen Staatsleben, für den ist das Lesen des Kjellénschen Buches, wenn man auch den Verfasser sehr gerne hat, geradezu eine Qual, eine richtige Qual. Warum? Ja, sehen Sie, Kjellén bringt es auch nicht weiter, als zu fragen: Wenn man nun den Staat als einen ganzen Organismus auffaßt, dann lebt der Mensch innerhalb. des Staates. Was ist denn dann der Mensch? - Es liegt nahe: eine Zelle! Also der Mensch ist eine Zelle des Staatsorganismus für Kjellén. Auf diesem Gedanken wird nun in dem Buche «Der Staat als Lebensform» viel von Kjellén aufgebaut. Der Mensch ist eine Zelle, wie wir die Zellen in uns haben, und der Staat ist der ganze Organismus, der durch seine verschiedenen Zellen sich organisiert.

Sehen Sie, wenn man bloß auf Vergleiche ausgeht - mehr ist es ja nicht -, dann kann man eigentlich alles mit allem vergleichen. Man kann wirklich eigentlich jeden Gedanken logisch vertreten, dennwenn man keine Konsequenzen zieht, kann man einen Organismus auch, mit einem Taschenmesser vergleichen. Es kommt aber überall darauf an, daß man den Sinn hat für das Eindringen in die Wirklichkeit. Da aber gelangt man gleich in sehr merkwürdige Sackgassen, wenn man gerade das Kjellénsche Buch ins Auge faßt, in merkwürdige Sackgassen. In einem Organismus sind die Zellen, die sind nebeneinander, eine grenzt an die andere, und dadurch daß sie aneinandergrenzen und die Wirksamkeit haben, die daher kommt, ist der Organismus ein Organismus. Das läßt sich schon auf das Zusammenwirken der Menschen im sogenannten Staatsorganismus nicht mehr anwenden. Kurz, man kommt überhaupt, wenn man abstrakt logisch bleiben will, mit jedem geistreichen Gedanken dazu, daß man ein ziemlich dickes Buch schreiben kann darüber, und dann sich der Idee hingeben kann, das sei auch praktisch. Aber hat man Wirklichkeitsgeist, dann muß der Gedanke weiter ausgebaut werden. Er muß wirklich in die Wirklichkeit hineinversenkt werden, das ist ja erst die Erkenntnis. Ich empfehle Ihnen, lesen Sie das Buch, es ist ein repräsentatives Buch der jetzigen Zeit. Kaufen Sie es und lesen Sie es und empfinden Sie diese Qual, von der ich gesprochen habe.

Es kommt mit dazu, daß einem der Gedanke herausspringt: Was darf man denn nun dem Organismus vergleichen, wenn man den Gedanken vom Organismus auf das soziale Leben der Menschheit anwenden will? - Nur das Leben der Menschheit auf der ganzen Erde. Und die einzelnen Staaten darf man nur mit Zellen vergleichen.

Das Leben der Menschheit auf der ganzen Erde darf als ein Organismus bezeichnet werden, und die einzelnen Staaten dürfen als Zellen bezeichnet werden, nicht aber ein Staat als Organismus und der einzelne Mensch als Zelle. Damit aber wird das ganze überhaupt nur so, daß man es vergleichen kann, das staatliche Leben, mit einer Pflanze. Niemals mit etwas anderem als mit einem Pflanzenorganismus. Und will man nun den Begriff vom Organismus festhalten, so müßte man den Organismus nehmen und der Mensch müßte herausstehen. Denn es entwickelt sich der Mensch über alles Staatsleben hinaus, er kann nicht aufgehen wie die Zelle im einzelnen Organismus in diesem Staatsleben, sondern muß heraus. Das heißt, es muß Gebiete geben in der menschheitlichen Entwickelung, die nicht in den Staat fallen können. Man wird sehen, daß der Mensch hinausreichen muß in ein geistiges Gebiet, daß der Mensch nur in seiner unteren Verankerung in das Staatsleben hineinragen kann, aber nach oben in die geistige Welt. Und da ist es interessant, wie manche Forscher mit der Nase daraufgestoßen werden, daß die Menschen in den alten Zeiten, wo die Mysterien noch da waren, etwas davon gewußt haben. Und Kjellén weist selbst hin auf ein interessantes Buch, ein Buch, das vor fünfzig Jahren geschrieben worden ist von Fustel de Coulanges: «La Cité antique». Und er kommt zu der merkwürdigen, sowohl dem Verfasser Fustel de Coulanges wie auch Kjellén unverständlichen Sache: Was war denn der alte Staat? Was war denn das? - Da kommt Coulanges dazu, sich zu sagen: Ja, die alten Staaten, die gründeten sich alle auf den Kultus. Warum? Es war der Staat ein Gottesdienst, weil man da noch fühlte, daß der Mensch hinaufragen mußte in die geistige Welt. Da konnte jemand nur dann tonangebend im Staate sein, wenn er in die Mysterien eingeweiht war und aus den Mysterien heraus über die soziale Struktur Weisungen bekommen hat.

Im dritten, im vierten Zeitraum war es noch so. Die Leute kommen durch die äußere Forschung darauf, aber sie können nichts damit anfangen, trotzdem sie es in der Geschichte sogar lesen.

Es ist ungeheuer tragisch, die letzte Seite des Buches von Kjellén «Der Staat als Lebensform» auf sich wirken zu lassen, wo man sieht, daß er nun irgend etwas konstruieren will, was Staatswissenschaft ist, aber doch ganz, ganz mutlos vor der Tatsache steht: Was fangen wir denn nun an mit der Zelle? Man könnte ja, wenn man die Idee von Kjellén verwirklichen wollte, eigentlich nur die Menschen köpfen, denn sie können nicht mit ihrem Kopfe solch einem Staate angehören, der so aufgebaut wäre, wie die Wissenschaft Kjelléns ihn aufbaut, da sie mit ihrem Geistigen hinausragen müssen über das Staatswesen.

Sehen Sie, da kommt man zu ganz merkwürdigen Dingen, wenn man das Leben tiefer betrachtet. Und daher ist es, daß alles das, was sich heute Staatswissenschaft noch nennt, überhaupt noch nicht weiß, was es will. Nirgends gibt es noch für heutige Verhältnisse eine wirkliche Staatswissenschaft. Das ist alles noch Gerede. Denn eine wirkliche Staatswissenschaft wird erst entstehen können, wenn man wiederum hinorientiert ist nach der Art und Weise, wie der Mensch mit der geistigen Welt zusammenhängt, wenn man wiederum wissen wird, wieviel man organisieren kann im irdischen Zusammenleben und wieviel über die Organisation frei hinausgehen muß. Diese Dinge müssen aus gewissen Tiefen geholt werden. Hier spüren Sie, meine lieben Freunde, wie die Dinge tragisch werden. Die Menschheit muß ihre Entwickelungsgesetze in sich tragen, muß etwas verspüren von diesen Entwickelungsgesetzen.