Staat als Zelle der Weltpflanze, Mensch als Borsten des Staats

Quelle: GA 175, S. 339-355, 2. Ausgabe 1982, 01.05.1917, Berlin

Sehen Sie, auf manches in der Gegenwart muß man wirklich mit einer gewissen Betrübnis hinsehen, wenn auch diese Betrübnis niemals etwas sein soll, was niedergeschlagen macht, sondern im Gegenteil etwas sein soll, das gerade zur Arbeit, zum Streben in der Gegenwart geeignet und reif machen kann. In diesen Wochen ist ein Buch erschienen, und, ich möchte sagen, als mir dieses Buch in die Hand kam, hatte ich das Gefühl, daß ich mich am allerliebsten über dieses Buch freuen möchte, recht freuen möchte. Denn es ist geschrieben von einem Mann, der zu den, man darf sagen, wenigen gehört, die interessiert werden konnten für unsere geisteswissenschaftlichen Bestrebungen, und bei dem man wünschen möchte, daß er in sein eigenes geistiges Schaffen einfließen lassen könnte dasjenige, was aus den geisteswissenschaftlichen Bestrebungen heraus kommt.

Ich meine das Buch: «Der Staat als Lebensform» von Rudolf Kjellén, dem schwedischen Nationalökonomen und Staatsforscher. Als ich das Buch gelesen hatte, kann ich sagen, empfand ich Wehmut, weil ich gerade an einem Geiste, der, wie gesagt, interessiert werden konnte für die geisteswissenschaftlichen Bestrebungen, sehen konnte, wie weit entfernt seine Gedanken noch sind von denjenigen Gedanken, die der Gegenwart vor allen Dingen not tun würden, die in der Gegenwart vor allen Dingen Gestalt gewinnen müssen, damit sie einschlagen können in den Entwickelungsgang dieser Gegenwart. Kjellén versucht den Staat zu studieren, und man bekommt das Gefühl, daß er nirgends über Vorstellungen, über Ideen verfügt, welche ihn in die Lage versetzen, nun wirklich auch nur im allerentferntesten seine Aufgabe zu lösen, ja, der Lösung dieser Aufgabe auch nur irgendwie nahezukommen. Es ist schon ein betrübendes Gefühl - das ja, wie gesagt, nicht niedergeschlagen machen darf, sondern im Gegenteil die Kräfte stählen soll, wenn man sich in Wahrheit der Zeit gegenüberstellen muß -, es ist ein betrübendes Gefühl, gewissermaßen immer wieder und wiederum solche Entdeckungen machen zu müssen. [...]

Und jetzt bin ich so weit, daß ich mit ein paar Worten zurückkommen kann auf Kjelléns Buch über den «Staat als Lebensform». Dieses Buch ist ganz merkwürdig; schon aus dem Grunde merkwürdig, weil sein Verfasser wirklich mit allen Fasern seiner Seele danach strebt, sich klar zu werden: Was ist denn das eigentlich, der Staat? - und weil er nun gar kein Vertrauen hat zum menschlichen Vorstellungs- und Ideenvermögen, um irgend etwas auszumachen über die Frage, über das Problem: Was ist denn das eigentlich, der Staat? - Gewiß, er sagt allerlei schöne Dinge, die, wie ich gesehen habe, von den Kritikern der Gegenwart durchaus bewundert werden; er sagt allerlei schöne Dinge, aber dasjenige, was gewußt werden muß, zum Heil der Menschheit gewußt werden muß, das ahnt er gar nicht einmal.

Sehen Sie, ich kann Ihnen nur einen hauptsächlichsten Gesichtspunkt anführen. Zunächst einmal frägt sich dieser Kjellén: Ja, wie ist das Verhältnis des einzelnen Menschen zum Staat? - Und indem er sich eine Idee, eine Vorstellung über diese Frage bilden will, da kommt ihm sogleich etwas in die Quere. Er will ja den Staat als etwas Reales, als etwas Ganzes vorstellen, als etwas, man möchte sagen, das etwas Lebendiges ist; also sagen wir als einen Organismus, zunächst als einen Organismus. Manche haben schon den Staat als einen Organismus vorgestellt, dann tappen sie immer herum um die Frage, die dann sogleich auftaucht: Ja, ein Organismus besteht aus Zellen; was sind nun die Zellen dieses Staates? Das sind die einzelnen Menschen! - Und so ungefähr denkt auch Kjellén: Der Staat ist ein Organismus, so wie der menschliche Organismus oder der tierische Organismus ein Organismus ist, und wie der menschliche Organismus nun aus einzelnen Zellen besteht, so eben der Staat auch aus einzelnen Zellen, aus Menschen; die sind seine Zellen.

Man kann keine verkehrtere, keine schlimmere, keine irreführendere Analogie überhaupt aufstellen! Denn wenn man auf diese Analogie einen Gedankengang aufbaut, dann kann der Mensch niemals zu seinem Rechte kommen. Niemals! Denn warum? Sehen Sie, die Zellen, die im menschlichen Organismus sind, grenzen aneinander, und gerade in diesem Aneinandergrenzen liegt etwas Besonderes. Die ganze Organisation des menschlichen Organismus hängt mit diesem Aneinandergrenzen zusammen. Die Menschen im Staate grenzen nicht so aneinander wie die einzelnen Zellen. Es ist gar keine Rede davon. Die menschliche Persönlichkeit ist weit davon entfernt, im Ganzen des Staates so etwas zu sein, wie die Zellen im Organismus. Und wenn man zur Not den Staat mit einem Organismus vergleicht, so muß man sich klar sein darüber, daß man ganz gewiß ganz furchtbar danebenhaut, mit aller Staatswissenschaft furchtbar danebenhaut, wenn man übersieht, daß der einzelne Mensch keine Zelle ist, sondern das nur ist, was den Staat tragen kann, das Produktive selber ist, während die Zellen zusammen den Organismus bilden und in ihrer Gesamtheit dasjenige ausmachen, worauf es ankommt. Deshalb kann der heutige Staat, wo der Gruppengeist nicht mehr so ist wie in alten Zeiten, niemals so sein, daß das, was ihn vorwärtsbringt, von etwas anderem getragen wird als vom einzelnen menschlichen Individuum.

Das ist aber niemals zu vergleichen mit der Aufgabe der Zellen. In der Regel ist es gleichgültig, womit man irgend etwas vergleicht, man muß nur, wenn man Paare von Vergleichungen heranzieht, richtig vergleichen; Vergleiche werden in der Regel irgendwie Geltung haben, nur dürfen sie nicht so weit gehen, wie der Vergleich des Kjellén. Er kann ganz gut den Staat mit einem Organismus vergleichen, er könnte ihn auch vergleichen mit einer Maschine, das wird auch nichts schaden, oder meinetwegen mit einem Taschenmesser - es lassen sich da auch noch Berührungspunkte finden -, es muß nur, wenn man dann den Vergleich durchführt, die Sache richtig gemacht werden. Aber bis zu diesem Grade kennen die Leute gar nicht das Grundgefüge des Denkens, daß sie so etwas einsehen könnten.

Also lassen wir ihm das Recht, den Staat mit einem Organismus zu vergleichen. Dann muß er nur die richtigen Zellen suchen; und dann können die richtigen Zellen, wenn man nun wirklich den Staat mit einem Organismus vergleichen will, nicht gefunden werden. Er hat ganz einfach keine Zellen! Geht man mit wirklichkeitsgemäßem Denken an die Sache heran, so läßt sich der Gedanke einfach nicht durchführen. Ich will Ihnen nur klarmachen, begreiflich machen, daß man nur, wenn man abstrakt denkt, wie Kjellén, man jenen Gedanken durchführen kann; sobald man aber wirklichkeitsgemäß denkt, so stößt man an, weil der Gedanke nicht in der Wirklichkeit wurzelt. Man findet die Zellen nicht; es gibt keine Zellen. Dagegen findet man etwas anderes, etwas ganz anderes. Man findet, daß die einzelnen Staaten sich mit Zellen etwa vergleichen lassen; und das, was die Staaten zusammen auf der Erde ausmachen, das läßt sich dann mit einem Organismus vergleichen. Dann kommt man auf einen fruchtbaren Gedanken; nur muß man sich erst die Frage vorlegen: Was ist das für ein Organismus? Wo kann man etwas Gleichartiges draußen in der Natur finden, wo die Zellen in ähnlicher Weise ineinanderwirken, wie die einzelnen Staatzellen zum ganzen Erdenorganismus? - Und da findet man, wenn man weitergeht, daß man nur vergleichen kann die ganze Erde mit einem Pflanzen-Organismus, nicht mit einem tierischen, geschweige denn mit einem Menschen-Organismus - nur mit einem Pflanzen-Organismus.

Während das, was wir in der äußeren Wissenschaft haben, sich mit Unorganischem, mit dem Mineralreich beschäftigt, muß man hinaufdenken ins Pflanzenreich, wenn man Staatswissenschaft begründen will. Man braucht nicht bis zum Tierischen zu gehen, geschweige denn bis zum Menschlichen, aber man muß wenigstens sich frei machen von dem bloß mineralischen Denken. Aber bei solchen Denkern bleibt es dabei; sie machen sich nicht frei vom bloß mineralischen Denken, von dem wissenschaftlichen Denken. Sie denken nicht hinauf bis ins Pflanzenreich, sondern wenden nun die Gesetze, die sie im Mineralreich gefunden haben, auf den Staat an und nennen das Staatswissenschaft.

Ja, aber sehen Sie, um einen solchen fruchtbaren Gedanken zu finden, muß man eben mit seinem ganzen Denken in der Geisteswissenschaft wurzeln. Dann wird man aber auch dazu kommen, sich zu sagen, also ragt der Mensch mit seinem ganzen Wesen als eine Individualität über den Staat hinaus; er ragt ja hinein in die geistige Welt, in die der Staat nicht hineinragen kann. Wenn Sie also vergleichen wollen den Staat mit einem Organismus und den einzelnen Menschen mit den Zellen, dann würden Sie, wenn Sie wirklichkeitsgemäß denken, zu einem merkwürdigen Organismus kommen, zu einem solchen Organismus, der aus einzelnen Zellen bestünde, aber die Zellen würden überall über die Haut hinauswachsen. Sie würden einen Organismus haben, der über die Haut vorsteht; die Zellen würden sich ganz draußen für sich entfalten, unabhängig vom äußeren Leben. Sie müßten also überall den Organismus sich so vorstellen, wie wenn lebendige Borsten, die sich als Individualitäten fühlen, über die Haut hinauswachsen würden. Sie sehen, wie lebendiges Denken Sie in die Wirklichkeit hineinführt, wie es einem die Unmöglichkeiten zeigt an denen man straucheln muß, wenn man irgendeine Idee, die fruchtbar sein soll, fassen will. Kein Wunder also, daß solche, von der Geisteswissenschaft nicht befruchtete Ideen gar keine Tragkraft haben, um die Wirklichkeit zu organisieren. Wie soll man denn dasjenige, was auf der Erde sich ausbreitet, organisieren, wenn man keinen Begriff hat, was es ist. Man kann noch so viele Wilsonsche Kundgebungen erlassen von allerlei inter-staatlichen - was weiß ich - Verbänden und so weiter, wenn es nicht in der Wirklichkeit wurzelt, dann ist es doch ja bloße Rederei. Daher ist so vieles Rederei bloß, was in der Gegenwart gemacht wird.

Hier haben Sie einen Fall, wo Sie sehen können, wie unmittelbar notwendig es ist, daß Geisteswissenschaft mit ihren Impulsen in die Gegenwart eingreifen kann. Das ist ja das Unglück unserer Zeit, daß diese unsere Zeit ohnmächtig ist, solche Begriffe zu bilden, welche das, was wirklich organisch ist, beherrschen könnten. Daher kommt natürlich alles ins Chaos hinein, selbstverständlich kommt alles chaotisch durcheinander. Aber Sie sehen jetzt, wo die tieferen Ursachen liegen. Daher ist es kein Wunder, wenn solche Bücher wie «Der Staat als Lebensform» von Kjellén in merkwürdigster Art schließen. Denken Sie einmal, nun stehen wir in einer Zeit, wo die Menschen alle nachdenken wollen: Was soll man denn eigentlich tun, damit die Menschen wiederum miteinander leben können auf der Erde, nachdem sie immer mehr und mit jeder Woche mehr vorläufig beschließen, nun, nicht miteinander zu leben, sondern sich gegenseitig zu töten. Wie sollen sie wieder miteinander leben? - Aber die Wissenschaft, welche davon handeln will, wie die Menschen im Staate wiederum nebeneinander leben sollen, die schließt bei Kjellén mit folgenden Worten:

«Das muß unser letztes Wort in dieser Untersuchung des Staates als Lebensform sein. Wir haben gesehen, daß der Staat unserer Zeit aus zwingenden Gründen sehr geringe Fortschritte auf einem solchen Weg gemacht hat und sich einer derartigen Aufgabe noch nicht recht bewußt geworden ist. Aber wir glauben dennoch an einen höheren Staatstypus, der einen Vernunftzweck klarer erkennen läßt und diesem Ziel mit sicheren Schritten entgegenstreben wird.»

Nun, das ist der Schluß. Wir wissen nichts, wir sind uns nicht bewußt, was werden soll! Das ist das Fazit eines angestrengten, hingebungsvollen Denkens, das ist das Fazit eben eines Denkens, das mit seiner Seele so schwimmt mit dem Strom der Gegenwart, daß es das Nötige nicht in sich aufnehmen kann. Man muß diesen Dingen eben wirklich ins Auge schauen; denn erst dann entspringt sogar, ich möchte sagen, der Impuls, sich überhaupt in diesen Dingen Erkenntnis erwerben zu wollen, wenn man diesen Dingen wirklich ins Auge schaut, wenn man weiß, welche treibenden Kräfte in der Gegenwart sind.