Zeitgeschichtliche Vorträge keine politische Vorträge

Quelle: GA 174, S. 072-073, 1. Ausgabe 1966, 08.01.1917, Dornach

Als ich auf mehrfachen Wunsch mich entschlossen hatte, über einige Fragen aus der unmittelbaren Geschichte der Gegenwart zu sprechen, habe ich ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß es sich hier um die Erkenntnis von Tatsachen handeln soll und nicht die Rede davon sein könne, daß hier Politik oder irgend etwas mit Politik Zusammenhängendes getrieben werde; ich habe sogar diese Bemerkung öfters wiederholt. Allein es scheint doch, als ob immer wieder unter uns die Sorglosigkeit - um kein anderes Wort zu gebrauchen - in bezug auf solche Dinge einreißt, und daß man nicht bedenkt, daß ein gewisser Anspruch darauf besteht, die Wahrheit, wenn sie so intensiv ausgesprochen wird, auch in der Ausdrucksweise zu beobachten. Denn es scheint da oder dort von diesen Vorträgen in dem Sinne geredet zu werden, als würden hier politische Vorträge gehalten. Rücksichtslosigkeit ist ja bei einigen unserer Mitglieder auf der Tagesordnung und waltet seit langer Zeit - selbstverständlich unter einigen; ich rede nur von denen, die gemeint sind. Und alles, was aus der Besorgnis für unsere Sache heraus gesagt und immer wiederholt wurde, fruchtete nach gewissen Richtungen hin nichts. Man kann es ja deutlich merken, daß immer wieder und wieder die hier besprochenen Dinge in der eigentümlichsten Weise an Außenstehende weitergegeben werden. An sich habe ich gegen Mitteilungen, wenn sie in den selbstverständlichen Grenzen gehalten werden, nichts. Aber aus den verschiedenen Publikationen, die in der letzten Zeit erschienen sind, zu denen ja zum Beispiel auch das von Vollrathscher Seite ausgehende Unerhörteste gehört, ist deutlich ersichtlich, daß die Dinge nicht immer so weitergegeben werden, wie sie hier besprochen worden sind, sondern, vielleicht aus Unverstand, so, daß die greulichsten Entstellungen möglich sind. Ich weiß wohl, daß das aus unserer Mitte heraus geschieht, und wenn ich immer wieder und wieder dazu schweige und nicht gegen sogenannte Mitglieder, die sich in dieser Weise aufführen, nach der einen oder andern Richtung hin die Konsequenzen zu ziehen versuche, so ist das aus Liebe zu unserer gesamten Bewegung und unserer gesamten Gesellschaft.

Denn es ist natürlich nicht möglich, fortwährend gewissermaßen Feingerichte abzuhalten. Wohl aber wäre möglich, daß diejenigen Mitglieder, die von solchen Dingen wissen, sich der Sache auch annehmen, und sich in sachgemäßer Weise gegenüber solchen Mitgliedern verhalten, von denen ja bekannt sein kann, wie sie sich zuweilen zu dem hier gegegeben Geistesgut stellen. Dabei will ich nicht einmal - obwohl auch das zuweilen der Fall ist - sagen, daß immer eine direkte moralische Verfehlung vorliegen muß, wohl aber eine geringe Einsicht in das, was man zu tun vermag. Wer solche Mitteilungen machen will, sollte sich immer in durchaus treuer, ich möchte sagen, Selbsterkenntnis fragen, ob er die Dinge so genau verstanden hat, daß er sie mitteilen kann. Es ist schon notwendig, immer wieder von Zeit zu Zeit hierauf aufmerksam zu machen. Ohne Veranlassung geschieht es ja nicht, das können Sie mir glauben. Aber schließlich muß es nach und nach zu einem völligen Verstummen über gewisse Dinge kommen, und was dann aus unserer Bewegung werden muß, das ist ja leicht abzusehen. Dies wird mitveranlaßt von den Mitgliedern, die es immer wieder und wieder nicht vermeiden können, die tollsten Bezeichnungen für dieses oder jenes zu wählen, welche dann selbstverständlich zu den greulichsten Entstellungen führen. Es ist nun einmal nicht notwendig, daß überall, wo es jeder hören kann, der nicht zu uns gehört, über unsere Dinge gesprochen wird, und daß man Bezeichnungen wählt, die einem bequem sind, die sich aber gar nicht decken mit der ganzen Intention, die hier zugrunde liegt.

Ich muß es schon gestehen: Wenn da oder dort für dasjenige, was ich auf mehrfachen Wunsch hin hier als Betrachtungen anstelle, die Bezeichnung «politische Vorträge» gewählt wird, so muß ich das durchaus als eine ganz persönliche Attacke auf mich selber ansehen.

[...] Wie hängt nun dieser österreichisch-serbische Konflikt mit dem Weltkriege zusammen? Will man diesen Zusammenhang erkennen, so muß man schon durch die Erkenntnis der äußeren Verhältnisse hindurch, ich möchte sagen, in die tieferen Geheimnisse der europäischen Politik hineingehen. Nicht Politik wollen wir treiben, sondern uns die Erkenntnis dessen vor die Seele führen, was in dieser Politik gelebt hat. Ich möchte Ihnen die Frage beantworten: Wie wurde aus dem österreichisch-serbischen Konflikt ein europäischer Konflikt? Wie hängt die österreichisch-serbische Frage an der europäischen Frage?