Physisch-geistige Abhängigkeiten des Menschen

Quelle: GA 021, S. 150-163, 5. Ausgabe 1983, 1917

Skizzenhaft möchte ich nun auch darstellen, was sich mir ergeben hat über die Beziehungen des Seelischen zu dem Physisch-Leiblichen. Ich darf wohl sagen, daß ich damit die Ergebnisse einer dreißig Jahre währenden geisteswissenschaftlichen Forschung verzeichne. Erst in den letzten Jahren ist es mir möglich geworden, das in Frage Kommende so in durch Worte ausdrückbare Gedanken zu fassen, daß ich das Erstrebte zu einer Art vorläufigen Abschlusses bringen konnte. Auch davon möchte ich mir gestatten, die Ergebnisse hier nur andeutend darzulegen. Ihre Begründung kann durchaus mit den heute vorhandenen wissenschaftlichen Mitteln gegeben werden. Dies würde der Gegenstand eines umfangreichen Buches sein, das in diesem Augenblicke zu schreiben, mir die Verhältnisse nicht gestatten.

Sucht man nach der Beziehung des Seelischen zum Leiblichen, dann kann man nicht die von Brentano gegebene [...] Gliederung des seelischen Erlebens in Vorstellen, Urteilen und in die Erscheinungen des Liebens und Hassens zugrunde legen. Diese Gliederung führt beim Aufsuchen dieser Beziehungen zu einer solchen Verschiebung aller in Betracht kommenden Verhältnisse, daß man nicht zu sachgemäßen Ergebnissen gelangen kann. Man muß bei einer derartigen Betrachtung von der von Brentano abgewiesenen Gliederung in Vorstellen, Fühlen und Wollen ausgehen. Faßt man nun zusammen alles dasjenige Seelische, das als Vorstellen erlebt wird und sucht man nach den leiblichen Vorgängen, mit denen dieses Seelische in Beziehung zu setzen ist, so findet man den entsprechenden Zusammenhang, indem man dabei in weitgehendem Maße den Ergebnissen der gegenwärtigen physiologischen Psychologie sich anschließen kann.

Die körperlichen Gegenstücke zum Seelischen des Vorstellens hat man in den Vorgängen des Nervensystems mit ihrem Auslaufen in die Sinnesorgane einerseits und in die leibliche Innenorganisation andrerseits zu sehen. So sehr man vom anthroposophischen Gesichtspunkte aus manches wird anders zu denken haben, als es die gegenwärtige Wissenschaft tut: eine Grundlage vorzüglicher Art ist in dieser Wissenschaft vorhanden. Nicht so steht es, wenn man die leiblichen Gegenstücke für das Fühlen und Wollen bestimmen will. In bezug darauf muß man sich innerhalb der Ergebnisse gegenwärtiger Physiologie erst den richtigen Weg bahnen. Ist man auf denselben gelangt, so findet man, daß man wie das Vorstellen zur Nerventätigkeit so das Fühlen in Beziehung bringen muß zu demjenigen Lebensrhythmus, der in der Atmungstätigkeit seine Mitte hat und mit ihr zusammenhängt. Man hat dabei zu berücksichtigen, daß man zu dem angestrebten Ziele den Atmungsrhythmus mit allem, was mit ihm zusammenhängt, bis in die äußersten peripherischen Teile der Organisation verfolgen muß. Um auf diesem Gebiete zu konkreten Ergebnissen zu gelangen, müssen die Erfahrungen der physiologischen Forschung in einer Richtung verfolgt werden, welche heute noch vielfach ungewohnt ist. Erst wenn man dies vollbringt, werden alle Widersprüche verschwinden, die sich zunächst ergeben, wenn Fühlen und Atmungsrhythmus zusammengebracht werden. Was zunächst zum Widerspruch herausfordert, wird bei näherem Eingehen zum Beweise für diese Beziehung.

Aus dem weiten Gebiet, das hier verfolgt werden muß, sei nur ein einziges Beispiel herausgehoben. Das Erleben des Musikalischen beruht auf einem Fühlen. Der Inhalt des musikalischen Gebildes aber lebt in dem Vorstellen, das durch die Wahrnehmungen des Gehörs vermittelt wird. Wodurch entsteht das musikalische Gefühls-Erlebnis? Die Vorstellung des Tongebildes, die auf Gehörorgan und Nervenvorgang beruht, ist noch nicht dieses musikalische Erlebnis. Das letztere entsteht, indem im Gehirn der Atmungsrhythmus in seiner Fortsetzung bis in dieses Organ hinein, sich begegnet mit dem, was durch Ohr und Nervensystem vollbracht wird. Und die Seele lebt nun nicht in dem bloß Gehörten und Vorgestellten, sondern sie lebt in dem Atmungsrhythmus; sie erlebt dasjenige, was im Atmungsrhythmus ausgelöst wird dadurch, daß gewissermaßen das im Nervensystem Vorgehende heranstößt an dieses rhythmische Leben. Man muß nur die Physiologie des Atmungsrhythmus im rechten Lichte sehen, so wird man umfänglich zur Anerkennung des Satzes kommen: die Seele erlebt fühlend, indem sie sich dabei ähnlich auf den Atmungsrhythmus stützt wie im Vorstellen auf die Nervenvorgänge. - Und bezüglich des Wollens findet man, daß dieses sich in ähnlicher Art stützt auf Stoffwechselvorgänge. Wieder muß da in Betracht gezogen werden, was alles an Verzweigungen und Ausläufern der Stoffwechselvorgänge im ganzen Organismus in Betracht kommt. Wie dann, wenn etwas «vorgestellt » wird, sich ein Nervenvorgang abspielt, auf Grund dessen die Seele sich ihres Vorgestellten bewußt wird, wie ferner dann, wenn etwas « gefühlt » wird, eine Modifikation des Atmungsrhythmus verläuft, durch die der Seele ein Gefühl auf lebt: so geht, wenn etwas « gewollt » wird, ein Stoffwechselvorgang vor sich, der die leibliche Grundlage ist für das als Wollen in der Seele Erlebte.

- Nun ist in der Seele ein vollbewußtes waches Erleben nur für das vorn Nervensystem vermittelte Vorstellen vorhanden. Was durch den Atmungsrhythmus vermittelt wird, das lebt im gewöhnlichen Bewußtsein in jener Stärke, welche die Traumvorstellungen haben. Dazu gehört alles Gefühlsartige, auch alle Affekte, alle Leidenschaften und so weiter. Das Wollen, das auf Stoffwechselvorgänge gestützt ist, wird in keinem höheren Grade bewußt erlebt als in jenem ganz dumpfen, der im Schlafe vorhanden ist. Man wird bei genauer Betrachtung des hier in Frage Kommenden bemerken, daß man das Wollen ganz anders erlebt als das Vorstellen. Das letztere erlebt man wie man etwa eine von Farbe bestrichene Fläche sieht; das Wollen so, wie eine schwarze Fläche innerhalb eines farbigen Feldes. Man « sieht » innerhalb der Fläche, auf der keine Farbe ist, eben deshalb etwas, weil im Gegensatz zu der Umgebung, von der Farben- Eindrücke ausgehen, von dieser Fläche keine solchen Eindrücke kommen: man «stellt das Wollen vor », weil innerhalb der Vorstellungs-Erlebnisse der Seele an gewissen Stellen sich ein Nicht-Vorstellen einfügt, das sich in das vollbewußte Erleben hineinstellt ähnlich wie die im Schlafe zugebrachten Unterbrechungen des Bewußtseins in den bewußten Lebenslauf. Aus diesen verschiedenen Arten des bewußten Erlebens ergibt sich die Mannigfaltigkeit des seelischen Erfahrens in Vorstellen, Fühlen und Wollen. - Theodor Ziehen wird in seinem Buche « Leitfaden der physiologischen Psychologie » zu bedeutungsvollen Kennzeichnungen des Gefühls und des Wollens geführt. Dies Buch ist in mancher Beziehung mustergültig für die gegenwärtige naturwissenschaftliche Betrachtungsart des Zusammenhanges von Physischem und Psychischem.

Das Vorstellen in seinen verschiedenen Gestaltungen wird zu dem Nervenleben in die Beziehung gesetzt, die man auch vom anthroposophischen Gesichtspunkte anerkennen muß. Doch über das Gefühl sagt Ziehen (vergleiche 9. Vorlesung in seinem genannten Buche): « Die ältere Psychologie betrachtet fast ausnahmslos die Affekte als die Kundgebungen eines besonderen, selbständigen Seelenvermögens. Kant stellte das Gefühl der Lust und Unlust als besondere Seelenfähigkeit zwischen das Erkenntnisvermögen und das Begehrungsvermögen und betonte ausdrücklich, daß eine weitere Ableitung dieser drei Seelenvermögen aus einem gemeinschaftlichen Grunde nicht möglich sei. Demgegenüber haben unsere bisherigen Erörterungen uns bereits gelehrt, daß die Gefühle der Lust und Unlust in dieser Selbständigkeit gar nicht existieren, daß sie vielmehr nur als Eigenschaften oder Merkmale von Empfindungen und Vorstellungen als sogenannte Gefühlstöne auftreten.» - Diese Denkungsart gesteht also dem Fühlen keine Selbständigkeit im Seelenleben zu; sie sieht in ihm nur eine Eigenschaft des Vorstellens. Die Folge davon ist, daß sie nicht nur das Vorstellungsleben, sondern auch das Gefühlsleben von den Nervenvorgängen gestützt sein läßt. Für sie ist das Nervenleben das Leibliche, dem das gesamte Seelische zugeeignet wird. Doch beruht diese Denkungsart im Grunde darauf, daß sie in unbewußter Art schon das vorausdenkt, was sie finden will. Sie läßt als Seelisches nur dasjenige gelten, was zu Nervenvorgängen in Beziehung steht, und muß aus diesem Grunde dasjenige, was nicht dem Nervenleben sich zueignen läßt, das Fühlen, als nicht selbständig existierend ansehen, als bloßes Merkmal des Vorstellens.

Wer sich nicht in dieser Weise mit seinen Begriffen in eine falsche Richtung bringt, dem wird erstens eine unbefangene Seelenbeobachtung die Selbständigkeit des Gefühlslebens in der bestimmtesten Art ergeben, zweitens wird ihm die vorurteilslose Verwertung der physiologischen Erkenntnisse die Einsicht verschaffen, daß das Fühlen in der oben angedeuteten Weise dem Atmungsrhythmus zuzueignen ist. - Dem Wollen spricht die naturwissenschaftliche Denkungsart alles selbständig Wesenhafte im Seelenleben ab. Dieses gilt ihr nicht einmal wie das Fühlen als Merkmal des Vorstellens. Aber dieses Absprechen beruht auch nur darauf, daß man alles Wesenhaft-Seelische den Nervenvorgängen zueignen will (vergleiche die 15. Vorlesung in Theodor Ziehens «Physiologischer Psychologie »). Nun kann man aber das Wollen in seiner besonderen Eigenart nicht auf eigentliche Nervenvorgänge beziehen. Gerade wenn man dies mit der musterhaften Klarheit herausarbeitet, wie es Theodor Ziehen tut, kann man zu der Ansicht hingedrängt werden, die Analyse der Seelenvorgänge in ihrer Beziehung zum Leibesleben «ergibt keinen Anlaß zur Annahme eines besonderen Willensvermögens». Und doch: die unbefangene Seelenbetrachtung erzwingt die Anerkennung des selbständigen Willenlebens; und die sachgemäße Einsicht in die physiologischen Ergebnisse zeigt, daß das Wollen als solches nicht zu Nervenvorgängen, sondern zu Stoffwechselvorgängen in Beziehung gesetzt werden muß. Wenn man auf diesem Gebiete klare Begriffe schaffen will, dann muß man die physiologischen und psychologischen Ergebnisse in dem Lichte sehen, das durch die Wirklichkeit gefordert wird; nicht aber so, wie es in der gegenwärtigen Physiologie und Psychologie vielfach geschieht, in einer Beleuchtung, welche aus vorgefaßten Meinungen, Definitionen, ja sogar theoretischen Sympathien und Antipathien stammt.

Vor allem ist scharf ins Auge zu fassen das Verhältnis von Nerventätigkeit, Atmungsrhythmus und Stoffwechseltätigkeit. Denn diese Tätigkeitsformen liegen nicht neben-, sondern ineinander, durchdringen sich, gehen ineinander über. Stoffwechseltätigkeit ist im ganzen Organismus vorhanden; sie durchdringt die Organe des Rhythmus und diejenigen der Nerventätigkeit. Aber im Rhythmus ist sie nicht die leibliche Grundlage des Fühlens, in der Nerventätigkeit nicht diejenige des Vorstellens; sondern in beiden ist ihr die den Rhythmus und die Nerven durchdringende Willenswirksamkeit zuzueignen. Was im Nerv als Stoffwechseltätigkeit existiert, kann nur ein materialistisches Vorurteil mit dem Vorstellen in eine Beziehung setzen. Die in der Wirklichkeit wurzelnde Betrachtung sagt etwas ganz anderes. Sie muß anerkennen, daß im Nerv Stoffwechsel vorhanden ist, insofern ihn das Wollen durchdringt. Ebenso ist es in dem leiblichen Apparat für den Rhythmus. Was in ihm Stoffwechseltätigkeit ist, hat mit dem in diesem Organ vorhandenen Wollen zu tun. Man muß mit der Stoffwechseltätigkeit das Wollen, mit dem rhythmischen Geschehen das Fühlen in Zusammenhang bringen, gleichgültig, in welchen Organen sich Stoffwechsel oder Rhythmus offenbaren. In den Nerven aber geht noch etwas ganz anderes vor sich als Stoffwechsel und Rhythmus. Die leiblichen Vorgänge im Nervensystem, welche dem Vorstellen die Grundlage geben, sind physiologisch schwer zu fassen. Denn, wo Nerventätigkeit stattfindet, da ist Vorstellen des gewöhnlichen Bewußtseins vorhanden. Der Satz gilt aber auch umgekehrt: wo nicht vorgestellt wird, da kann nie Nerventätigkeit gefunden werden, sondern nur Stoffwechseltätigkeit im Nerven, und andeutungsweise rhythmisches Geschehen.

Die Physiologie wird nie zu Begriffen kommen, die für die Nervenlehre wirklichkeitsgemäß sind, so lange sie nicht einsieht, daß die wahrhaftige Nerventätigkeit überhaupt nicht Gegenstand der physiologischen Sinnesbeobachtung sein kann. Anatomie und Physiologie müssen zu der Erkenntnis kommen, daß sie die Nerventätigkeit nur durch eine Methode der Ausschließung finden können. Was im Nervenleben nicht sinnlich beobachtbar ist, wovon aber das Sinnesgemäße die Notwendigkeit seines Vorhandenseins ergibt und auch die Eigenheit seiner Wirksamkeit, das ist Nerventätigkeit. Zu einer positiven Vorstellung über die Nerventätigkeit kommt man, wenn man in ihr dasjenige materielle Geschehen sieht, durch das im Sinne des ersten Kapitels dieser Schrift die rein geistig-seelische Wesenhaftigkeit des lebendigen Vorstellungsinhaltes zu dem unlebendigen Vorstellen des gewöhnlichen Bewußtseins herabgelähmt wird. Ohne diesen Begriff, den man in die Physiologie einführen muß, wird in dieser keine Möglichkeit bestehen, zu sagen, was Nerventätigkeit ist. Die Physiologie hat Methoden sich ausgebildet, welche gegenwärtig diesen Begriff eher verdecken als ihn offenbaren. Und auch die Psychologie hat sich auf diesem Gebiete den Weg versperrt. Man sehe nur, wie zum Beispiel die Herbartsche Psychologie in dieser Richtung gewirkt hat. Sie hat den Blick nur auf das Vorstellungsleben geworfen, und sieht in Fühlen und Wollen nur Wirksamkeiten des Vorstellungslebens. Aber diese Wirksamkeiten zerrinnen vor der Erkenntnis, wenn man nicht zu gleicher Zeit den Blick unbefangen auf die Wirklichkeit des Fühlens und Wollens richtet.

Man kommt durch solches Zerrinnen zu keiner wirklichkeitsgemäßen Zuordnung des Fühlens und Wollens zu den leiblichen Vorgängen. - Der Leib als Ganzes, nicht bloß die in ihm eingeschlossene Nerventätigkeit ist physische Grundlage des Seelenlebens. Und wie das letztere für das gewöhnliche Bewußtsein sich umschreiben läßt durch Vorstellen, Fühlen und Wollen, so das leibliche Leben durch Nerventätigkeit, rhythmisches Geschehen und Stoffwechselvorgänge. - Sogleich entsteht da die Frage: wie ordnen sich in den Organismus ein auf der einen Seite die eigentliche Sinneswahrnehmung, in welche die Nerventätigkeit nur ausläuft, und wie die Bewegungsfähigkeit auf der andern Seite, in welche das Wollen mündet? Unbefangene Beobachtung zeigt, daß beides nicht in demselben Sinne zum Organismus gehört wie Nerventätigkeit, rhythmisches Geschehen und Stoffwechselvorgänge. Was im Sinn geschieht ist etwas, das gar nicht unmittelbar dem Organismus angehört. In die Sinne erstreckt sich die Außenwelt wie in Golfen hinein in das Wesen des Organismus. Indem die Seele das im Sinne vor sich gehende Geschehen umspannt, nimmt sie nicht an einem inneren organischen Geschehen teil, sondern an der Fortsetzung des äußeren Geschehens in den Organismus hinein. (Ich habe diese Verhältnisse erkenntniskritisch in einem Vortrag für den Bologner Philosophen-Kongreß des Jahres 1911 erörtert.) - Und in einem Bewegungsvorgang hat man es physisch auch nicht mit etwas zu tun, dessen Wesenhaftes innerhalb des Organismus liegt, sondern mit einer Wirksamkeit des Organismus in den Gleichgewichts - und Kräfteverhältnissen, in die der Organismus gegenüber der Außenwelt hineingestellt ist.

Innerhalb des Organismus ist dem Wollen nur ein Stoffwechselvorgang zuzueignen; aber das durch diesen Vorgang ausgelöste Geschehen ist zugleich ein Wesenhaftes innerhalb der Gleichgewichts- und Kräfteverhältnisse der Außenwelt; und die Seele übergreift, indem sie sich wollend betätigt, den Bereich des Organismus und lebt mit ihrem Tun das Geschehen der Außenwelt mit. Eine große Verwirrung hat für die Betrachtung aller dieser Dinge die Gliederung der Nerven in Empfindungs- und motorische Nerven angerichtet. So fest verankert diese Gliederung in den gegenwärtigen physiologischen Vorstellungen erscheint: sie ist nicht in der unbefangenen Beobachtung begründet. Was die Physiologie vorbringt auf Grund der Zerschneidung der Nerven, oder der krankhaften Ausschaltung gewisser Nerven beweist nicht, was auf Grundlage des Versuches oder der Erfahrung sich ergibt, sondern etwas ganz anderes. Es beweist, daß der Unterschied gar nicht besteht, den man zwischen Empfindungs- und motorischen Nerven annimmt. Beide Nervenarten sind vielmehr wesensgleich. Der sogenannte motorische Nerv dient nicht in dem Sinne der Bewegung wie die Lehre von dieser Gliederung es annimmt, sondern als Träger der Nerventätigkeit dient er der inneren Wahrnehmung desjenigen Stoffwechselvorganges, der dem Wollen zugrunde liegt, geradeso wie der Empfindungsnerv der Wahrnehmung desjenigen dient, was im Sinnesorgan sich abspielt. Bevor nicht die Nervenlehre in dieser Beziehung mit klaren Begriffen arbeitet, wird eine richtige Zuordnung des Seelenlebens zum Leibesleben nicht zustande kommen.

In ähnlicher Art, wie man psycho-physiologisch die Beziehungen des in Vorstellen, Fühlen und Wollen verlaufenden Seelenlebens zum Leibesleben suchen kann, so kann man anthroposophisch nach Erkenntnis der Beziehungen streben, welche das Seelische des gewöhnlichen Bewußtseins zum Geistesleben hat. Und da findet man durch die in diese und in meinen anderen Schriften geschilderten anthroposophischen Methoden, daß sich für das Vorstellen wie im Leibe die Nerventätigkeit, so im Geistigen eine Grundlage findet. Die Seele steht nach der anderen, vom Leibe abgewandten, Seite in Beziehung zu einem geistig Wesenhaften, das die Grundlage ist für das Vorstellen des gewöhnlichen Bewußtseins. Dieses geistig Wesenhafte kann aber nur durch schauendes Erkennen erlebt werden. Und es wird so erlebt, indem sich sein Inhalt als gegliederte Imaginationen dem schauenden Bewußtsein darstellt. Wie nach dem Leibe hin das Vorstellen auf der Nerventätigkeit ruht, so strömt es von der andern Seite her aus einem geistig Wesenhaften, das in Imaginationen sich enthüllt. Dieses geistig Wesenhafte ist, was in meinen Schriften der Äther- oder Lebensleib genannt wird. (Wobei, wenn ich es bespreche, ich immer darauf aufmerksam mache, daß man sich an dem Ausdruck « Leib » ebensowenig wie an dem andern « Äther » stoßen solle, denn, was ich ausführe, zeigt klar, daß man das Gemeinte nicht im materialistischen Sinne deuten soll.) Und dieser Lebensleib (in dem 4. Buch des 1. Jahrganges der Zeitschrift «Das Reich» habe ich auch den Ausdruck «Bildekräfteleib» gebraucht) ist das Geistige, aus dem das Vorstellungsleben des gewöhnlichen Bewußtseins von der Geburt (beziehungsweise Empfängnis) bis zum Tode erfließt. - Das Fühlen des gewöhnlichen Bewußtseins ruht nach der Leibesseite hin auf dem rhythmischen Geschehen. Von der geistigen Seite her erfließt es aus einem Geistig-Wesenhaften, das innerhalb der anthroposophischen Forschung durch Methoden gefunden wird, welche ich in meinen Schriften als diejenigen der Inspiration kennzeichne.

(Wobei man wieder berücksichtigen möge, daß ich innerhalb dieses Begriffes nur das von mir Umschriebene verstehe, so daß man meine Bezeichnung nicht verwechseln sollte mit dem, was oft vom Laien bei diesem Worte verstanden wird.) Dem schauenden Bewußtsein offenbart sich in dem der Seele zugrunde liegenden, durch Inspirationen zu erfassenden geistig Wesenhaften dasjenige, was dem Menschen als Geistwesen eigen ist über Geburt und Tod hinaus. Auf diesem Gebiete ist es, wo die Anthroposophie ihre geisteswissenschaftlichen Untersuchungen über die Unsterblichkeitsfrage anstellt. So wie im Leibe durch das rhythmische Geschehen sich der sterbliche Teil des fühlenden Menschenwesens offenbart, so in dem Inspirations-Inhalt des schauenden Bewußtseins der unsterbliche geistige Seelenwesenskern. - Das Wollen, das nach dem Leibe hin auf den Stoffwechselvorgängen beruht, erströmt aus dem Geiste für das schauende Bewußtsein durch dasjenige, was ich in meinen Schriften die wahrhaftigen Intuitionen nenne. Was im Leibe durch die gewissermaßen niederste Betätigung des Stoffwechsels sich offenbart, dem entspricht im Geiste ein Höchstes: dasjenige, was durch Intuitionen sich ausspricht. Daher kommt das Vorstellen, das auf der Nerventätigkeit beruht, leiblich fast vollkommen zur Darstellung; das Wollen hat in den ihm leiblich zugeordneten Stoffwechselvorgängen nur einen schwachen Abglanz. Das wirkliche Vorstellen ist das lebendige; das leiblich bedingte ist das abgelähmte. Der Inhalt ist derselbe. Das wirkliche Wollen, auch das in der physischen Welt sich verwirklichende, verläuft in den Regionen, die nur dem intuitiven Schauen zugänglich sind; sein leibliches Gegenstück hat mit seinem Inhalte fast gar nichts zu tun.

In demjenigen geistig Wesenhaften, das der Intuition sich offenbart, ist enthalten, was sich aus vorangegangenen Erdenleben in die folgenden hinübererstreckt. Und auf dem hier in Betracht kommenden Gebiet ist es, wo die Anthroposophie sich den Fragen der wiederholten Erdenleben und der Schicksalsfrage nähert. Wie der Leib in Nerventätigkeit, rhythmischem Geschehen und Stoffwechselvorgängen sich auslebt, so der Geist des Menschen in demjenigen, was in Imaginationen, Inspirationen, Intuitionen sich offenbart. Und wie der Leib in seinem Bereich nach zwei Seiten das Wesen seiner Außenwelt miterleben läßt, nämlich in den Sinnes- und den Bewegungsvorgängen, so der Geist nach der einen Seite hin, indem er das vorstellende Seelenleben auch im gewöhnlichen Bewußtsein imaginativ erlebt; und nach der andern Seite hin, indem er im Wollen intuitive Impulse ausgestaltet, die sich durch Stoffwechselvorgänge verwirklichen. Sieht man nach dem Leibe hin, so findet man die Nerventätigkeit, die als Vorstellungswesen lebt; sieht man nach dem Geiste hin, so gewahrt man den Geist-Inhalt der Imaginationen, der in eben dieses Vorstellungswesen einfließt. Brentano empfindet zunächst die geistige Seite am vorstellenden Seelenleben; daher charakterisiert er dieses Leben als Bildleben (imaginatives Geschehen). Aber wenn nicht bloß ein eigenes Seelen-Inneres erlebt wird, sondern durch das Urteil ein Anzuerkennendes oder zu Verwerfendes, so kommt zum Vorstellen hinzu ein aus dem Geiste fließendes Seelenerlebnis, dessen Inhalt unbewußt bleibt, so lange es sich nur um das gewöhnliche Bewußtsein handelt, weil er in den Imaginationen von einer dem physischen Objekte zugrunde liegenden geistigen Wesenhaftigkeit besteht, die zu der Vorstellung nur das hinzufügen, daß deren Inhalt existiert.

Aus diesem Grunde ist es, daß Brentano das Vorstellungsleben in seiner Klassifikation spaltet, in das bloße Vorstellen, das nur innerlich Daseiendes imaginativ erlebt; und in das Urteilen, das von außen Gegebenes imaginativ erlebt, aber das Erlebnis nur als Anerkennung oder Verwerfung sich zum Bewußtsein bringt. Gegenüber dem Fühlen blickt Brentano gar nicht nach der Leibes-Grundlage, dem rhythmischen Geschehen hin, sondern er versetzt nur dasjenige in den Bereich seiner Aufmerksamkeit, was aus unbewußt bleibenden Inspirationen im Gebiet des gewöhnlichen Bewußtseins als Lieben und Hassen auftritt. Das Wollen aber entfällt ganz seiner Aufmerksamkeit, weil dieses sich nur auf Erscheinungen in der Seele richten will, in dem Wollen aber etwas hegt, was nicht in der Seele beschlossen ist, sondern mit dem die Seele eine Außenwelt miterlebt. Die Brentanosche Klassifikation der Seelenphänomene beruht also darauf, daß er diese nach Gesichtspunkten gliedert, die ihre wahre Beleuchtung erfahren, wenn man den Blick nach dem Geist-Kerne der Seele lenkt, und daß er doch damit treffen will die Phänomene des gewöhnlichen Bewußtseins.