Übereinstimmung der Völker durch Einheit der Geisteswelt

Quelle: GA 020, S. 008-018, 5. Ausgabe 1984, 1916

Es widerstrebt der Empfindung mancher Menschen, von der Einwirkung einer Volkheit auf die Weltanschauungen der aus dieser Volkheit entsprossenen Persönlichkeiten zu sprechen. Denn sie meinen, das widerspräche doch der selbstverständlichen Wahrheit, daß Erkenntnis des Wahren ein bei allen Menschen in gleicher Art vorhandenes Lebensgut sei. Daß dies sich so verhält, ist wirklich so selbstverständlich, wie daß der Sonnenschein und der Mondenschein allen Menschen der Erde gleich erstrahlen. Und unbestreitbar gilt es ebenso für die höchsten Gedanken der Weltanschauung wie für das «Zweimal zwei ist vier» der Alltäglichkeit, daß die Wahrheit nicht nach Menschen- und Völkerart verschieden sich gestalten könne. Aber eben weil dies so selbstverständlich ist, sollte nicht vorausgesetzt werden - ohne weiteres Hinsehen auf das, was gemeint ist -, daß jemand dies Selbstverständliche außer acht läßt, der im Wesen der Denker eines Volkes sucht nach den Wurzeln der Volkheit, aus der sie entstammen. Der Menschengeist lebt doch nicht nur in der abstrakten Prägung gewisser Begriffe; er schöpft sein Leben auch aus den Kräften, welche [] die Seelen aus ihren vertraulichsten Erfahrungen heraus mit den aus ihnen geborenen Einsichten mittönen lassen. [...]

Welch ein Wahrheitsgehalt einem Gedanken innewohnt und ob eine Vorstellung aus den Wurzeln echter Wirklichkeit erwachsen ist: darüber können sicherlich nur die von Ort und Zeit unabhängigen Erkenntniskräfte entscheiden. Doch ob ein bestimmter Gedanke, ob eine den Menschengeist in eine gewisse Richtung lenkende Idee innerhalb einer Volkheit auftaucht, das liegt an den Quellen, aus denen der Geist dieser Volkheit schöpfen darf. [...]

Man kann aus der Anerkennung der Volkstümlichkeit solcher Gedanken einen Einwand gegen ihren Erkenntniswert bilden. Man kann meinen, daß sie dadurch auf das Feld der Phantasie gedrängt werden und man von ihnen sprechen müsse wie etwa von deutscher Dichtung, während es unzulässig sei, von deutscher Mathematik oder deutscher Physik in demselben Sinne zu reden. Es gibt Menschen, die in jeder Weltanschauung - jeder Philosophie - eine Begriffsdichtung sehen. Diese brauchen sich mit dem Einwand, der aus der angedeuteten Empfindung ersteht, nicht zu beschäftigen. Doch die Ausführungen dieser Schrift [] sind nicht von solchem Gesichtspunkte aus geschrieben. Sie stellt sich auf den andern, daß im Ernste niemand von einer Weltanschauung sprechen kann, der ihr nicht einen Erkenntniswert zuerkennt, der nicht voraussetzt, daß ihre Gedanken aus Wirklichkeiten stammen, die allen Menschen gemeinsam sind. Man kann auch sagen, das sei im allgemeinen richtig; aber eine allen Menschen gemeinsam geltende Weltanschauung sei ein Ideal, das noch nirgends verwirklicht ist; alle bestehenden Weltanschauungen tragen an sich, was aus der Unvollkommenheit der Menschennatur ihnen aufgedrückt ist. Auf eine Besprechung der aus solchem Grunde bestehenden Unvollkommenheit der Weltanschauungen kann hier verzichtet werden. Denn es sollen nicht etwa aus der Volkstümlichkeit von Weltanschauungsgedanken Entschuldigungen für deren Schwäche, sondern Gründe für deren Stärke gesucht werden. Daher kann die Behauptung hier außer Betracht bleiben, daß eben die Denker wie von ihren persönlichen Standpunkten, so auch von dem abhängig sind, was ihnen aus ihrer Volkheit anhaftet; und daß sie eben deshalb nicht zu einer allgemein-menschlichen Weltanschauung durchdringen können. [...]

Bemerkt man, daß zwei Denker verschiedene Gedanken über die Fragen des Lebens aussprechen, so hat man allzuleicht das Gefühl: Wenn die beiden mit ihren Gedanken die wahre Wirklichkeit zum Ausdrucke brächten, so müßten sie ein Gleiches, nicht Verschiedenes sagen. Und man denkt, die Verschiedenheit könne nicht in der Wirklichkeit, sondern nur in der persönlichen (subjektiven) Auffassungsart der Denker ihre Gründe haben. Wenn dies auch [] nicht immer offen bekannt wird von den Menschen, die über Weltanschauungen sprechen, so liegt diese Meinung dem Geiste und der Haltung ihres Redens doch mehr oder weniger bewußt oder auch unbewußt zum Grunde. Ja, die Denker selbst leben zumeist in einer solchen Befangenheit. Sie sprechen ihre Gedanken über das aus, was sie für Wirklichkeit halten, sehen diese Gedanken für ihr «System» einer rechten Weltanschauung an und glauben, eine andere Gedankenrichtung beruhe auf der persönlichen Eigenart des Denkers. - Die Darstellung dieser Schrift hat eine andere Ansicht zu ihrem Hintergrunde. [...] Zwei voneinander abweichende Gedankenrichtungen können ihrem Wesen nach oftmals nur dadurch begriffen werden, daß man ihre Verschiedenheit so ansieht wie die Verschiedenheit zum Beispiele zweier Bilder eines Baumes, die von zwei Richtungen her durch einen Photographierapparat aufgenommen sind. Die Bilder sind verschieden; aber ihre Verschiedenheit beruht nicht auf dem Wesen des Apparates, sondern auf der Stellung des Baumes zum Apparat. Und diese ist etwas ebenso außerhalb des Apparates Liegendes wie der Baum selbst. Die Bilder sind beide wahre Ansichten von dem Baume. Das Abweichende zweier Weltanschauungen hindert nicht, daß beide die wahre Wirklichkeit zum Ausdrucke bringen. - Die Wirrnis der Ideen entsteht, wenn die Menschen dieses nicht durchschauen. [...]

Der denkende Mensch möchte durch eine Vorstellungsart das Wesen der Wirklichkeit umfassen. Und wenn er bemerkt, daß er dieses umsonst unternimmt, so behilft er sich damit, daß er sagt: Alle Vorstellungen über die Wurzeln des wirklichen Lebens sind persönlich (subjektiv) gestaltet, und das Wesen des «Dinges an sich» bleibt unerkennbar. Aus wie vielen Verwirrungen des Gedankenlebens heraus führte doch die Erkenntnis, daß gar mancher Mensch über eine von der seinigen abweichende Weltanschauung so spricht, wie einer, der das von einer Seite her aufgenommene Bild eines Baumes kennt, und der, gestellt vor ein von anderer Seite her erhaltenes, nicht zugeben will, daß dies ein «richtiges» Bild desselben Baumes ist! [...]

Mit der dargestellten Ansicht soll aber nicht eine Rechtfertigung gegeben sein jeder menschlichen Meinung, die sich als Weltanschauung ansieht. Wirkliche Irrtümer, Fehlerhaftigkeit der Erkenntnisquellen, Gesichtspunkte, von denen aus nur eine umnebelte Einbildung Weltanschauungsgedanken schaffen will: alles dieses wird sich gerade in dem Lichte zeigen, zu dem diese Ansicht dringt. Indem sie zu erfahren sucht, inwiefern in voneinander abweichenden menschlichen Gedanken die eine Wirklichkeit sich offenbart, darf sie auch hoffen, einen Blick dafür zu gewinnen, wo eine menschliche Meinung von der Wirklichkeit selbst zurückgewiesen wird.