Ausgleich durch Reinkarnation oder schon in jetztiger Inkarnation

Quelle: GA 157, S. 077-080, 2. Ausgabe 1960, 17.01.1915, Berlin

Wenn wir zum Beispiel die heutigen Franzosen betrachten, so leben natürlich innerhalb des französischen Volkes eine Anzahl menschlicher Individualitäten. Diese Individualitäten sind nicht etwa diejenigen, welche zum Beispiel in ihrer früheren Inkarnation innerhalb des Volkes gelebt haben, das da im Westen von Europa das äußere Kleid des Christentumes angenommen hat. Denn gerade dadurch, daß im Westen von Europa eine Anzahl von Menschen das Christentum als äußeres Kleid annehmen mußte, gingen diese Menschen so durch die Pforte des Todes, daß sie angewiesen waren, unter anderen Bedingungen im nächsten Leben in ihrem astralischen Leib und Ich mit dem Christentum vereinigt zu sein. Gerade dadurch, daß sie im Westen von Europa verkörpert waren, war für sie die Notwendigkeit gegeben, ihre nächste Verkörperung nicht in dem Westen von Europa zu haben. Es ist überhaupt sehr selten der Fall - selten sage ich, es braucht aber darum nicht immer so zu sein -, daß eine Seele aufeinanderfolgend in mehreren Inkarnationen etwa derselben Erdengemeinschaft angehört. Die Seelen gehen aus einer Erdengemeinschaft in die andere hinüber.

Aber ein Beispiel haben wir - ich sage das, ohne Sympathien oder Antipathien erregen zu wollen, noch um etwa jemandem schmeicheln zu wollen -, ein Beispiel haben wir, wo Seelen in der Tat mehrmals durch ein und dasselbe Volkstum durchgehen. Das ist der Fall beim mitteleuropäischen Volke. Dieses mitteleuropäische Volk hat viele Seelen, welche heute darin leben, und die auch früher innerhalb der germanischen Völker verkörpert waren. Solcher Tatsache können wir nachgehen. Wir können sie oftmals mit den Mitteln der okkulten Forschung, wie wir sie bis jetzt haben, gar nicht völlig erklären; aber sie steht da. Eine solche Tatsache, wie sie zum Beispiel im öffentlichen Vortrag am letzten Donnerstag «Die germanische Seele und der deutsche Geist» gezeigt wurde, bekommt Licht, wenn wir wissen, daß Seelen wiederholt innerhalb der mitteleuropäischen Volksgemeinschaft erscheinen. Das ist die Tatsache, daß wir gerade innerhalb dieser Volksgemeinschaft abgerissene Kultutepochen haben. Man soll sich nur vorstellen, was es bedeutet, daß innerhalb der Morgenröte der germanischen Kultur es eine Epoche gegeben hat, wie sie da war bei den Dichtern des Nibelungenliedes, bei Walther von der Vogelweide und anderen; und man soll sich vorstellen, daß später eine Zeit begann, in welcher eine neue Blütezeit der germanischen Kultur einsetzte, und wo die erste Blüte ganz vergessen war. Denn zu Zeit, als Goethe jung war, wußte man sozusagen nichts von der ersten Blüte germanischen Kulturlebens. Gerade weil die Seelen innerhalb dieser Volksgemeinschaft wiederkehren, mußte vergessen werden, was schon einmal da war, damit die Seelen etwas Neues fanden, wenn sie wiederkehrten, und nicht unmittelbar an das anknüpfen konnten, was aus den früheren Zeiten geblieben war. Bei keinem andem Volke ist es so, daß gewissermaßen solche Metamorphose durchgemacht worden wäre, wie beim mitteleuropäischen Volke: von jener Höhe, welche vorhanden war im zehnten, elften, zwölften Jahrhundert, zu jener andern Höhe, die wieder da war um die Zeit vom Ende des achtzehnten und Beginn des neunzehnten Jahrhunderts und deren Fortwirken wir erhoffen dürfen. Von dem ersten zum zweiten Zeitpunkt geht kein fortlaufender Strom, was nur erklärlich wird, wenn wir wissen, daß gerade auf diesem Gebiete der Geisteskultur Seelen wiederkommen. Vielleicht hängt es auch mit dem zusammen, was ich Ihnen gegenüber schon einmal eine erschütternde Tatsache genannt habe - daß eben wirklich nur zu bemerken war bei den mitteleuropäischen Kämpfern der Gegenwart, daß sie, wenn sie durch die Pforte des Todes gehen, weiter mitkämpfen; daß, bald nachdem sie durch die Pforte des Todes gegangen sind, zu schauen ist, wie sie mitkämpfen. Daher kann man nach dieser Tatsache die schönsten Hoffnungen für die Zukunft haben, wenn man eben sieht, daß nicht nur die Lebendigen, im physischen Sinne Lebendigen, sondern auch die Toten, die Verstorbenen, mithelfen an dem, was geschieht.

Werfen wir nun die Frage auf. Wie ist es etwa mit denjenigen Seelen, die in den Zeiten, als das Christentum wie eine äußere Gewandung angenommen worden ist, namentlich in der Zeit des sechsten, siebenten, achten, neunten Jahrhunderts in Westeuropa verkörpert waren und dort, oder auch unter den Römern, das Christentum angenommen haben, es aber noch nicht vereinigen konnten mit ihrem astralischen Leib und ihrem Ich? Wie ist es mit diesen Seelen?

Ja, so grotesk es für die materialistisch denkenden Menschen der Gegenwart ist, so bedeutungsvoll werden die Lehren der Geisteswissensdiaft für das Leben, wenn man auf die konkreten Tatsachen eingeht- Das betrachten die Menschen noch als das Hirngespinst einiger närrischer Träumer, wenn man von wiederholten Erdenleben spricht. Man nimmt diese Idee nicht an; aber man findet es verzeihlich, nachdem ja auch der große Lessing in einer schwachen Stunde seines Lebens die Idee der wiederholten Erdenleben angenommen hat, wenn auch heute wieder davon gesprochen wird. Aber wenn wirklich eingegangen wird auf die Ergebnisse der okkulten Forschung, dann ist man kein Verzeihung erheischender Narr mehr für die Menschen der großen Aufklärung. Dennoch aber müssen wir eingehen auf einiges, was uns die okkulte Forschung gibt; denn dadurch erst kommt Licht hinein in das, was sonst die große Täuschung bleiben muß.

Da ist das Merkwürdige, daß uns von den Seelen, die während der auslaufenden Römerzeit, als das Christentum allmählich Einfluß gewann und dann zur Staatsreligion wurde, damals im Westen lebten, jetzt eine ganz große Anzahl vom Osten entgegenkommt, Seelen also, die im Osten aufwachsen und unter den Kämpfern Rußlands sind.

Ich sagte: merken wir uns die Tatsache, die wir vorhin anführten. Denn wir finden unter den Menschen, die im Osten getötet werden, die dort kämpfen oder gefangen genommen werden, solche Seelen, die in den letzten Römerzeiten im Westen Europas gelebt haben. Die kommen uns jetzt vom Osten entgegen, die damals das Christentum in den Ätherleib haben fließen lassen und die jetzt in den Leibern einer verhältnismäßig niedriger stehenden Kultur, durch das eigentümliche Leben des Ostens, im Wachzustande das Christentum so in ihre Seelen hereinnehmen, daß sie sich gefühlsmäßig, instinktmäßig mit ihm verbinden. Also gerade in ihren astralischen Leibern verbinden sie sich mit dem Christus-Impuls und holen dadurch dasjenige nach, was sie in ihren vorhergehenden Inkarnationen nicht haben erreichen können. Das ist eine sehr merkwürdige Tatsache, die uns die okkulte Forschung in unseren Tagen zeigen kann. Unter den vielen erschütternden Tatsachen, die, angeregt durch unsere Zeitereignisse, in das okkulte Feld hereintreten können, ist auch diese. Was können wir uns nuh aus diesen Tatsachen klarmachen?