Christentum als universelle Sprache statt Volkszusammengehörigkeit

Quelle: GA 118, S. 168-173, 3. Ausgabe 1984, 15.05.1910, Hamburg

Was dieses Pfingstfest für die Menschen des Abendlandes bedeutet, das stellt sich vor uns hin in einem gewaltigen, in einem tief ins Gemüt sprechenden Bilde. Dieses Bild kennt ja wohl ein jeder der hier Anwesenden. Der Begründer, der Stifter des Christentums weilt noch eine Weile, nachdem er das Mysterium von Golgatha vollzogen hat, unter denen, die ihn zu sehen vermögen in jener Leiblichkeit, die er nach dem Mysterium von Golgatha angenommen hat. Und dann wird uns die weitere Folge der Ereignisse in einer bedeutungsvollen Bilderreihe vor die Seele gerückt. Es löst sich auf, sichtbar in einer gewaltigen Vision für seine nächsten Bekenner, die Leiblichkeit, die der Begründer des Christentums nach dem Mysterium von Golgatha angenommen hat, in der sogenannten Himmelfahrt.

Und dann folgt nach zehn Tagen das, was uns nun gekennzeichnet wird durch ein Bild, das eine eindringliche Sprache führt für alle Herzen, die es verstehen wollen. Versammelt sind die Bekenner des Christus, versammelt die, welche ihn zuerst verstanden haben. Tief fühlen sie den gewaltigen Impuls, der durch ihn eingezogen ist in die Menschheitsentwickelung, und erwartungsvoll harrt ihre Seele nach der Verheißung, die ihnen geworden ist, der Ereignisse, die sich in diesen Seelen selbst vollziehen sollen. Versammelt sind sie mit tiefer Inbrunst, diese ersten Bekenner und Versteher des Christus-Impulses, an dem Tage des in ihren Gegenden altehrwürdigen Pfingstfestes. Und erhoben werden ihre Seelen zu höherer Anschauung, gerufen werden sie gleichsam durch das, was uns dargestellt wird als «gewaltiges Brausen», um ihr Betrachtungsvermögen nach dem hinzulenken, was da werden soll, was ihnen bevorsteht, wenn sie in immer neuen Wiederverkörperungen mit dem Feuerimpuls, den sie in ihre Herzen empfangen haben, auf dieser unserer Erde leben werden.

Und hingemalt wird vor unsere Seele das Bild der «feurigen Zungen», die sich niederlassen auf das Haupt eines jeglichen Bekenners, und eine gewaltige Vision sagt den Teilnehmenden, wie die Zukunft dieses Impulses sein wird. Denn die also versammelten und die geistige Welt im Geiste schauenden ersten Versteher des Christus fühlen sich so, als ob sie nicht sprechen würden zu denen, die in ihrer unmittelbaren Raumesnähe, in ihrer unmittelbaren Zeitennähe sind: sie fühlen ihre Herzen weit, weit hinausversetzt zu den verschiedensten Völkern des Erdkreises, und sie fühlen, wie wenn in ihren Herzen etwas lebt, was übersetzbar ist in alle Sprachen, in das Verstehen der Herzen aller Menschen. Wie umringt fühlen sich die ersten Bekenner in dieser gewaltigen Vision, die ihnen aufgeht von der Zukunft des Christentums, wie umringt von den zukünftigen Verstehern aus allen Völkern der Erde. Und sie fühlen es so, als ob sie einmal die Macht haben würden, die christlichen Verkündigungen in solche Worte zu kleiden, die nicht nur denen verständlich sind, die gerade in ihrer unmittelbaren Raumes- und Zeitennähe sind, sondern allen Menschen auf Erden, die ihnen in der Zukunft begegnen werden.

Das war es, was als ein innerer Gefühls- und Gemütsinhalt sich ergab für die ersten Bekenner des Christentums am ersten christlichen Pfingstfeste. Die Erklärungen aber, die im Sinne des wahrhaft esoterischen Christentums gegeben werden und in Bilder gekleidet wurden, sie sagen: Der Geist, der auch wohl genannt wird der Heilige Geist, der da ist, der seine Kraft zur Erde herniederschickte in der Zeit, als der Christus Jesus in die Erde hinein seinen Geist sandte, der zunächst wiedererschien, als der Jesus getauft wurde von Johannes dem Täufer, derselbe Geist in einer andern Form, in Form vieler einzelner, leuchtend feuriger Zungen, senkte sich nieder zu den einzelnen Individualitäten der ersten christlichen Versteher. - Von diesem Heiligen Geiste wird uns im Pfingstfeste noch in einer ganz besonderen Form gesprochen. Stellen wir einmal die Bedeutung des Wortes «Heiliger Geist», wie es in den Evangelien gemeint ist, vor unsere Seele hin. Wie sprach man denn überhaupt in alten Zeiten, auch in den der christlichen Verkündigung vorangegangenen, von dem Geist?

Man sprach in alten Zeiten in vieler Beziehung vom «Geist», insbesondere aber in einer Beziehung. Man hatte ja die durch unsere heutige geisteswissenschaftliche Erkenntnis wieder sich rechtfertigende Anschauung: Wenn ein Mensch durch die Geburt ins Dasein tritt, das zwischen Geburt und Tod verfließt, dann wird der Leib, in den diese Individualität sich hineinverkörpert, in zweifacher Weise bestimmt. Diese menschliche Leiblichkeit hat ja im Grunde zweierlei Aufgaben zu erfüllen. Wir sind mit unserer Leiblichkeit Menschen im allgemeinen; wir sind aber auch mit unserer Leiblichkeit vor allen Dingen Menschen dieses oder jenes Volkes, dieser oder jener Rasse oder Familie. In jenen alten Zeiten, die der christlichen Verkündigung vorangegangen waren, verspürte man noch wenig von dem, was man nennen kann «allgemeine Menschheit», von jenem Zusammengehörigkeitsgefühl, das immer mehr und mehr seit der christlichen Verkündigung in dem Menschenherzen gegenwärtig ist, und das uns sagt: Du bist Mensch mit allen Menschen der Erde! - Dagegen hatte man um so mehr von jenem Gefühl, das den einzelnen Menschen zum Angehörigen eines einzelnen Volkes oder Stammes machte.

Das haben wir ja selbst in der altehrwürdigen Hindureligion ausgedrückt in dem Glauben, daß ein wahrer Hindu nur der sein könne, der durch Blutsgemeinschaft ein Hindu ist. In vieler Beziehung hielten daran auch fest - obwohl sie dieses Prinzip vielfach durchbrochen hatten - die Angehörigen des althebräischen Volkes vor der Ankunft des Christus Jesus. Ein Angehöriger seines Volkes war der Mensch nach ihrer Anschauung erst dadurch, daß ein Elternpaar, das diesem Volke angehörte, das heißt blutsverwandt war, ihn hineingestellt hatte in dieses Volk.

Aber auch etwas anderes wußte man immer zu fühlen. Man war zwar in alten Zeiten bei allen Völkern immer mehr oder weniger sich fühlend wie ein Glied eines Stammes, wie ein Glied des Volkes, doch je weiter wir zurückgehen in urferne Vergangenheit, desto intensiver ist dieses Gefühl vorhanden, sich gar nicht als eine einzelne Individualität zu fühlen, sondern als Glied eines Volkes. Aber man lernte allmählich doch auch als einzelner Mensch sich fühlen, als eine einzelmenschliche Individualität mit individuellen menschlichen Eigenschaften. Das fühlte man gleichsam als die zwei Prinzipien, welche in unserer äußeren Menschlichkeit wirken: die Zugehörigkeit zum Volke und die Individualisierung als einzelner Mensch.

Nun schrieb man die Kräfte, die zu diesen zwei Prinzipien gehörten, in verschiedener Weise den beiden Eltern zu. Das Prinzip, durch das man mehr seinem Volk angehörte, durch das man sich mehr der Allgemeinheit eingliederte, schrieb man der Vererbung durch die Mutter zu. Wenn man im Sinne dieser alten Anschauungen fühlte, sagte man von der Mutter, in ihr walte der Geist des Volkes. Sie war erfüllt von dem Geist des Volkes und hat das allgemein volksmäßig Menschliche vererbt an ihr Kind. Und von dem Vater sagte man, daß er Träger und Vererber jenes Prinzipes sei, das dem Menschen mehr die individuellen, persönlichen Eigenschaften gäbe. Wenn also - auch noch im Sinne des althebräischen Volkes der vorchristlichen Zeit - ein Mensch durch die Geburt ins Dasein trat, konnte man sagen: Er ist eine Persönlichkeit, er ist eine Individualität durch die Kräfte seines Vaters. Erfüllt aber war seine Mutter durch ihre ganze Wesenheit mit dem Geist, der im Volke waltet und den sie auf das Kind übertragen hat. Von der Mutter sprach man, daß in ihr der Geist des Volkes wohne. Und in diesem Zusammenhange sprach man vorzugsweise von dem Geist, der seine Kräfte heruntersendet aus den geistigen Reichen in die Menschheit, indem er auf dem Umwege durch die Mütter in die physische Welt seine Kräfte hineinströmen läßt in die Menschheit.

Nun war aber durch den Christus-Impuls eine neue Anschauung gekommen, eine Anschauung, daß dieser Geist, von dem man früher gesprochen hat, dieser Volksgeist abgelöst werden sollte von einem ihm zwar verwandten, aber viel höher wirkenden Geist, von einem solchen Geiste, der sich verhält zu der ganzen Menschheit, wie sich der alte Geist verhalten hat zu den einzelnen Völkern. Dieser Geist sollte der Menschheit mitgeteilt werden und sie erfüllen mit der inneren Kraft, die da sagt: Ich fühle mich nicht mehr bloß angehörig einem Teile der Menschheit, sondern der ganzen Menschheit; ich bin ein Glied der ganzen Menschheit, und werde immer mehr ein Glied dieser ganzen Menschheit sein! - Diese Kraft, die also ausgoß das allgemein Menschliche über die ganze Menschheit, schrieb man dem Heiligen Geist zu. So erhöhte sich der Geist, der sich aussprach in der Kraft, welche vom Volksgeist in die Mütter floß, vom Geist zum Heiligen Geist.

Derjenige, der den Menschen die Kraft bringen sollte, das allgemein Menschliche immer mehr und mehr im Erdendasein auszubilden, der konnte nur wohnen, als der Erste, in einem Leibe, der vererbt war im Sinne der Kraft des Heiligen Geistes. Dies aber empfing als Verkündigung die Mutter des Jesus. Und im Sinne des Matthäus-Evangeliums hören wir, wie bestürzt Joseph ist - von dem uns gesagt wird, er sei ein frommer Mann, das heißt aber im Sinne des alten Sprachgebrauches ein solcher, der nur glauben konnte, wenn er einmal ein Kind haben werde, dann werde es herausgeboren sein aus dem Geiste seines Volkes -, als er erfährt: die Mutter seines Kindes ist erfüllt, ist «durchdrungen», denn so hat das Wort seine richtige Bedeutung in unserem Sprachgebrauch, von der Kraft eines Geistes, der nicht bloß Volksgeist ist, sondern der Geist der allgemeinen Menschheit! Und er glaubt nicht, daß er mit einer Frau Gemeinschaft haben könnte, die ihm ein Kind gebären könnte, das in sich trägt den Geist der ganzen Menschheit und nicht den Geist, zu dem er in seiner Frömmigkeit gehalten hat. Da wollte er sie denn, wie gesagt wird, «heimlich verlassen». Und erst nachdem ihm auch aus den geistigen Welten eine Mitteilung gegeben worden war, die ihm Kraft gab, konnte er sich entschließen, einen Sohn zu haben von jener Frau, die durchdrungen und erfüllt war von der Kraft des Heiligen Geistes.

Dieser Geist ist also schöpferisch betätigt, indem er mit der Geburt des Jesus von Nazareth seine Kräfte einfließen läßt in die Menschheitsentwickelung. Und er ist weiter betätigt bei jenem gewaltigen Akt der Johannestaufe am Jordan. Nun verstehen wir, was die Kraft des Heiligen Geistes ist: Es ist die Kraft, welche den Menschen immer mehr und mehr erheben soll von allem, was ihn differenziert und absondert, zu dem, was ihn zu einem Glied der ganzen, die Erde erfüllenden Menschheit macht, was als Seelenband wirkt von einer jeglichen Seele zu einer jeden andern Seele, ganz gleichgültig, in welchem Leibe sie wohnt.