Individualität und Völkertod durch Blutmischung

Quelle: GA 055, S. 061-065, 2. Ausgabe 1983, 25.10.1906, Berlin

Wenn Sie in der Geschichte zurückgehen, dann tritt für alle Völker des Erdkreises ein Moment auf, der Ihnen ganz genau bei jedem einzelnen Volke bezeichnet werden kann. Das ist der Moment, wo das Volk in einen neuen Kulturzustand eintritt, in dem es aufhört, alte Traditionen zu haben, wo es aufhört, Urweisheit zu besitzen, jene Weisheit, die durch das Blut der Generationen hindurchgerollt ist. Die Völker haben ein Bewußtsein davon, und dieses Bewußtsein finden wir ausgedrückt in den alten Sagen der Völker. Die Stämme blieben nämlich in früherer Zeit in sich abgeschlossen, die einzelnen Mitglieder der Familien heirateten untereinander. Das finden Sie ursprünglich bei allen Rassen und Völkern. Und ein wichtiger Moment für die Menschheit ist der, als dieses Prinzip durchbrochen wird, sich fremdes Blut mit fremdem Blute mischt, wo die Nah-Ehe in die Fern-Ehe übergeht. Die Nah-Ehe bewahrt das Blut der Generationen, sie läßt dasselbe Blut durch die einzelnen Glieder rinnen, das seit Generationen den Stamm, die Nation durchfloß. Die Fern-Ehe gießt neues Blut dem Menschen ein, und diese Durchbrechung des Stammesprinzipes, diese Mischung des Blutes, die bei allen Völkern sich findet und früher oder [] später auftritt, bedeutet die Geburt des äußeren Verstandes, die Geburt des Intellektes.

Das ist eben das Wichtige, daß in alten Zeiten eine Art dämmerhaften Hellsehens vorhanden war und daß Mythen und Sagen aus diesem hellseherischen Vermögen heraus entstanden sind, welches sich in dem verwandtschaftlichen Blute ausleben kann wie in dem vermischten Blute das gegenwärtige Bewußtsein. Mit dem Eintritt der Fern-Ehe fällt auch die Geburt des logischen Denkens, die Geburt des Intellektes zusammen. So überraschend das ist, so wahr ist es. Es ist eine Erkenntnis, die immer mehr und mehr durch die äußere Forschung bestätigt werden wird. Die Anfänge sind schon gemacht. Die Blutmischung, die mit der Fern-Ehe eintritt, ist zu gleicher Zeit dasjenige, was das Hellsehen von früher zunächst auslöscht, um die Menschheit zu einer höheren Entwicklungsstufe hinaufzuheben. Wie der, welcher eine okkulte Entwicklung durchmacht, dieses Hellsehen wieder heraufhebt und es zu einer neuen Form umwandelt, so hat sich umgekehrt das gegenwärtige wache Tagesbewußtsein aus einem alten dämmerhaften Hellsehen heraus entwickelt.

Gegenwärtig drückt sich die ganze Umwelt, der der Mensch sich hingibt, im Blute aus, und diese Umwelt formt das Innere daher nach dem Äußeren. Beim Urmenschen drückte sich mehr das leibliche Innere im Blute aus. In den Urzeiten vererbten sich mit der Erinnerung an die Erlebnisse der Vorfahren auch deren Neigungen zu diesem oder jenem Guten und Bösen. In dem Blute des Nachkommen waren die Wirkungen der Neigungen der Vorfahren zu spüren. Als dann das Blut durch die Fern-Ehe gemischt wurde, da wurde auch dieser Zusammenhang mit den Vorfahren durchschnitten. Der Mensch ging über zum persönlichen Eigenleben. Er lernte sich in seinen sittlichen Neigungen [] nach dem zu richten, was er im persönlichen Leben erfahren hat. So drückt sich in einem ungemischten Blute die Macht des Vorfahrenlebens aus, in dem gemischten die Macht der eigenen Erlebnisse. Davon erzählen die Sagen und Mythen der Völker. Sie sagen uns: Was Macht hat auf dein Blut, das hat Macht über dich. Die Macht der Völkertraditionen hörte auf, als sie nicht mehr wirken konnte auf das Blut, als dessen Aufnahmefähigkeit für solche Vorfahrenmacht erlischt durch die Beimischung des fremden Blutes. Und dieser Satz gilt im weitesten Umfange. Welche Macht auch immer sich eines Menschen bemächtigen will, sie muß so auf ihn wirken, daß sich diese Wirkung im Blute ausdrückt. Will also eine böse Macht Einfluß gewinnen auf den Menschen, dann muß sie Herrschaft haben über sein Blut. Das ist der tiefe und geistvolle Zug des erwähnten Wortes aus Faust. Daher sagt der Repräsentant des bösen Prinzipes: Schreibe mir deinen Namen mit Blut unter den Pakt. Habe ich deinen Namen mit deinem Blute geschrieben, dann habe ich dich bei demjenigen erfaßt, wodurch der Mensch überhaupt erfaßt werden kann, ich habe dich zu mir herübergezogen. Wem das Blut gehört, dem gehört auch der Mensch oder des Menschen Ich.

Wenn zwei Menschengruppen aufeinanderstoßen, wie dies bei der Kolonisation der Fall zu sein pflegt, dann wird derjenige, welcher die Evolution kennt, sagen können, ob eine fremde Kultur aufgenommen werden kann oder nicht. Nehmen Sie ein Volk, das herausgewachsen ist aus seiner Umgebung, in dessen Blut sich seine Umgebung hineingebildet hat, und versuchen Sie, ihm eine fremde Kultur aufzupfropfen. Es ist unmöglich. Das ist auch der Grund, warum gewisse Ureinwohner zugrunde gehen mußten, als die Kolonisten in bestimmte Gegenden kamen. Von diesem Gesichtspunkte aus wird man diese Frage beurteilen müssen, [] und dann wird man auch nicht mehr glauben, daß man jedes jedem aufpfropfen kann. Dem Blute darf nur dasjenige zugemutet werden, was es noch vertragen kann.

Die Entdeckung der neueren Wissenschaft, daß, wenn man Blut eines Tieres mit dem eines ihm nicht verwandten vermischt, das eine Blut das andere tötet, ist eine alte okkulte Erkenntnis. Mischen Sie Menschenblut mit dem Blut niederer Affen, so tritt Vernichtung ein, weil sie zu weit voneinander abliegen. Mischen Sie Menschenblut und das Blut höherer Affen, so töten sie sich nicht. So wie die Mischung des Blutes von Tiergattungen, wenn sie zu entfernt sind, den wirklichen Tod hervorbringt, so tötete es das alte Hellsehen des niederen Menschen, als sein Blut mit dem Blute des nicht stammverwandten vermischt wurde. Das ganze heutige Geistesleben ist nichts anderes als das Ergebnis der Blutmischung, und man wird in nicht zu ferner Zeit auch den Einfluß der Blutmischung studieren und im Menschenleben zurückverfolgen können, wenn man von diesem Gesichtspunkte aus wieder die Forschung betreibt. Also: Blut zu Blut von in der Entwicklung sich fernstehenden Tiergattungen tötet; Blut zu Blut von verwandten Tiergattungen tötet nicht. Der physische Organismus des Menschen wird erhalten, auch wenn fremdes Blut zu fremdem Blute kommt, aber die hellseherische Kraft stirbt unter dem Einfluß der Blutmischung oder der Fern-Ehe.

Der Mensch ist so gestaltet, daß, wenn sich Blut und Blut mischt und diese Blutmischung nicht von einer Seite herkommt, die in der Entwicklung zu weit absteht, der Intellekt geboren wird. Dadurch wird die ursprünglich aus dem Animalischen kommende Hellseherkraft vernichtet und ein neues Bewußtsein in der Entwicklung geboren.

Es ist also bei der menschlichen Entwicklung auf höherer Stufe etwas Ähnliches vorhanden wie auf niederer Stufe in [] der Tierwelt. In der Tierwelt tötet fremdes Blut das fremde Blut. In der Menschenwelt tötet das fremde Blut dasjenige, was mit dem Verwandtenblut verbunden ist: das dumpfe, dämmerhafte Hellsehen. Das wache Tagesbewußtsein des Menschen der Gegenwart ist also ein Ergebnis eines Tötungsprozesses. Es ist im Laufe der Entwicklung das Geistesleben der Nah-Ehe getötet worden, aber es ist auch dafür aus der Fern-Ehe das Neue, der Intellekt, das wache Tagesbewußtsein geboren worden.

Was also im Blute des Menschen leben kann, das lebt in seinem Ich. Wie der physische Leib der Ausdruck ist für das physische Prinzip, der Ätherleib für die Lebenssäfte und ihre Systeme, der Astralleib für das Nervensystem, so ist das Blut der Ausdruck für das Ich. Physisches Prinzip, Ätherleib, Astralleib sind das Obere, Blutzustand und Ich sind das Mittlere und physischer Leib, Lebenssystem, Nervensystem sind das Untere. Was sich deshalb eines Menschen bemächtigen will, das muß sich seines Blutes bemächtigen. Das muß berücksichtigt werden, wenn man im praktischen Leben vorwärtskommen will. Man kann zum Beispiel ein fremdes Volk in seiner Eigenart töten, wenn man kolonisierend seinem Blute zumutet, was dieses Blut nicht ertragen kann. Denn im Blute drückt sich das Ich aus. Erst dann haben Schönheit und Wahrheit den Menschen, wenn sie sein Blut haben. Mephistopheles bemächtigt sich des Blutes des Faust, weil er dessen Ich haben will. Der Satz, der das Leitmotiv dieses Vortrags bildet, ist daher aus der Tiefe der Erkenntnis heraus genommen. Ja, Blut ist ein ganz besonderer Saft.