Demokratie zu konservativ, Nationalismus antisemitisch

Quelle: GA 031, S. 361-362, 2. Ausgabe 1966, 06.10.1900

Ich begann in den achtziger Jahren meine Studien an der Wiener Technischen Hochschule. Es war eine Zeit, in der sich in Österreich viel entschied. Der Liberalismus, der nach der Niederlage von Königgrätz eine kurze Blütezeit erlebt hatte, weil maßgebende Kreise von ihm die Rettung des durch die Bureauktatie in die völlige Verwirrung gebrachten Staates erhofften, war in seinem Ansehen gesunken. Er hatte die Führung im Reiche verloren, teils aus Schwäche, teils weil man ihm eine allzu kurze Zeit zur Verwirklichung seiner Absichten gelassen hatte. Wir jungen Leute von damals erwarteten von ihm nichts Erhebliches mehr. Mit um so größerer Begeisterung verschrieben wir uns der aufstrebenden deutsch-nationalen Bewegung. Ihre Führer kümmerten sich wenig um das, was man vorher «österreichischen Staatsgedanken» genannt hatte. Sie sahen in diesem ein wirklichkeitfeindliches Abstraktum. Ein österreichischer Staat, der auf die Mannigfaltigkeit seiner Volkskulturen keine Rücksicht nimmt, sondern auf der Grundlage eines recht gemäßigten Fortschrittes sich mit einer allen möglichen ererbten Vorurteilen und Rechten Rechnung tragenden Demokratie abfinden will, erschien den jüngeren ein Unding. Um so hoffnungsfreudiger glaubten die jüngeren Deutschen in die Zukunft blicken zu dürfen, wenn sie ihr eigenes Volkstum betonten, wenn sie sich in ihre Nationalkultur vertieften und den Zusammenhang mit dem Gange des Geisteslebens in Deutschland pflegten. In solche Ideale lebten sich die deutschen akademischen Jünglinge in den achtziger Jahren ein.

Sie bemerkten nicht, daß die Entwicklung der wirklichen Vorgänge eine Richtung nahm, in der nur Bestrebungen Aussicht auf Erfolg hatten, die auf viel gröberen Voraussetzungen ruhten, als die ihrigen waren. Die große Wirkung, die bald darauf Georg von Schönerer erzielte, der an die Stelle der idealistischen deutsch-nationalen Tendenzen den Rassenstandpunkt des Antisemitismus setzte, konnte uns zu keiner Bekehrung veranlassen. Selten tun ja Idealisten in einem solchen Falle etwas anderes, als in Klagen ausbrechen über die Verkennung ihrer berechtigten Bestrebungen. Diesen Idealisten wurde damals in Österreich gewissermaßen der Boden unter den Füßen weggezogen. Ihre Tätigkeit wurde gelähmt durch einen öffentlichen Geist, an dessen Bestrebungen sie keinen Anteil haben wollten. Mit diesen Worten könnte man das Schicksal einer großen Anzahl von Persönlichkeiten bezeichnen, die in der charakterisierten Zeit ihren Studien oblagen. Wenige nur haben sich aufgerafft, um in Lebensberufen Befriedigung zu suchen, die abseits lagen von dem öffentlichen Leben Österreichs; viele sind in unerfreulicher Resignation einem dumpfen Philisterleben verfallen; nicht wenige aber haben völlig Schiffbruch gelitten im Leben.