Wirtschaft anarchistisch da unbewußt

Quelle: GA 332a, S. 077-080, 2. Ausgabe 1977, 26.10.1919, Zürich

Mit dem Heraufkommen der komplizierten technischen Verhältnisse und der dadurch notwendig gewordenen komplizierten kapitalistischen Verhältnisse, der Unternehmungsverhältnisse, hat das wirtschaftliche

Leben seine Forderungen gestellt. Die Tatsachen des wirtschaftlichen Lebens sind, ich möchte sagen, den Menschen allmählich entschlüpft; sie nehmen mehr oder weniger ihren eigenen Gang. Der Mensch hat nicht die Kraft gefunden, von sich aus durch seine Vorstellungen, durch seine Ideen dieses wirtschaftliche Leben zu beherrschen. Aus dem Denken über die ökonomischen Forderungen, aus dem Denken über das Wirtschaftliche, wie man es unmittelbar beobachtet, hat sich der neuere Mensch herbeigelassen, immer mehr und mehr seine Rechtsbegriffe und auch seine geistigen Begriffe zu gestalten. Und so kann man sagen: Das Charakteristische in der Entwickelung der Menschheit in den letzten Jahrhunderten ist, daß sowohl die Rechtsbegriffe, durch welche die Menschen miteinander in Frieden leben wollen, wie auch die Begriffe vom Geistesleben, durch die sie ihre Fähigkeiten entwickeln und gestalten wollen, im hohen Grade abhängig geworden sind vom wirtschaftlichen Leben.

Man bemerkt gar nicht, wie sehr in dieser neueren Zeit die menschlichen Vorstellungen und das Verhalten der Menschen zueinander von dem wirtschaftlichen Leben abhängig geworden sind. Natürlich haben die Menschen auch die Einrichtungen der letzten Jahrhunderte selbst geschaffen, aber sie haben sie zum großen Teile nicht aus neugegründeten Vorstellungen und Ideen heraus geschaffen, sondern mehr aus unbewußten Impulsen, unbewußten Antrieben heraus. Und dadurch hat sich etwas ergeben, was man in Wirklichkeit ein gewisses Anarchisches in der Struktur des sozialen Organismus nennen kann. Nach verschiedenen Gesichtspunkten habe ich in den zwei ersten Vorträgen dieses Anarchische schon auseinandergehalten.

Aber innerhalb dieser anarchischen sozialen Struktur der neueren Zeit haben sich eben diejenigen Verhältnisse entwickelt, die zu der modernen Gestalt gerade der proletarischen Frage geführt haben. Der Proletarier, der hinweggerufen worden ist von seinem Handwerk, an die Maschine gestellt worden ist, in die Fabrik gepfercht worden ist - was hat er hauptsächlich gesehen, indem er sich das Leben, das sich um ihn herum entwickelte, ansah? Er hat vorzüglich an seinem eigenen Leben gesehen, wie abhängig alles ist, was er denken kann, was er an Recht hat gegenüber anderen Menschen, wie alles das bestimmt ist von wirtschaftlichen Machtverhältnissen, von den wirtschaftlichen Machtverhältnissen, die vor allen Dingen für ihn dadurch gegeben sind, daß er der wirtschaftlich Schwache gegenüber dem wirtschaftlich Starken ist.

Und so kann man sagen: Bei den leitenden führenden Kreisen hat sich eine gewisse Verleugnung der Grundwahrheit eingestellt, daß die menschlichen Einrichtungen von den Menschen selber aus ihrem bewußten Leben herauskommen sollen. Die Menschen haben vergessen, diese Grundwahrheit im sozialen Leben wirklich anzuwenden. Die leitenden führenden Kreise haben sich allmählich instinktiv einem Leben hingegeben - wenn auch nicht einem Glauben -, das den Geist und das Recht abhängig gemacht hat von den wirtschaftlichen Machtmitteln. Daraus aber ist entstanden ein Dogma, eine Lebensauffassung sozialistisch denkender Persönlichkeiten und ihres Anhanges. Die Lebensauffassung ist daraus hervorgegangen, es müsse in der Menschheitsentwickelung so sein, daß keine Möglichkeit da ist, daß der Mensch von sich selber aus Rechtsverhältnisse organisiere, daß der Mensch selber sich das geistige Leben organisiere, sondern daß das geistige Leben und das Rechtsleben sich wie ein Anhängsel ergeben müssen aus den wirtschaftlichen Realitäten, aus den wirtschaftlichen Produktionszweigen und so weiter.

Und so entstand die soziale Frage unter dem Gesichtspunkte einer bestimmten Forderung bei weiten Kreisen. Ihnen lag der Glaube zugrunde: Das wirtschaftliche Leben macht das Rechtsleben, das wirtschaftliche Leben macht das Geistesleben - also muß das wirtschaftliche Leben für sich so umgestaltet werden, daß es ein Rechtsleben, ein Geistesleben hervorbringt, wie es den Anforderungen dieser Kreise entspricht. Was zu Lebensgewohnheiten der leitenden führenden Kreise geworden war, hat das Proletariat gelernt, auch ins Bewußtsein heraufzuholen; was die anderen instinktiv dargelebt haben, hat es zum Dogma gemacht, und wir stehen heute der sozialen Frage so gegenüber, daß in weitesten Kreisen die Anschauung verbreitet ist: Wir müssen nur das Wirtschaftsleben umgestalten, die wirtschaftlichen Einrichtungen, dann wird alles andere, das Rechtsleben, das Geistesleben, von selber so kommen, wie aus wirtschaftlich richtig, gut, sozial gestalteten Einrichtungen dieses Geistes- und dieses Rechtsleben sich ergeben werden.

Unter dem Einflusse dieses Gesichtspunktes ist verkannt worden, um was es sich eigentlich handelt in der neueren sozialen Frage. Es ist gewissermaßen durch eine große Täuschung, durch eine gewaltige Illusion von diesem Dogma zugedeckt, verhüllt worden. Es handelt sich nämlich eigentlich darum: Gerade dieses ist ein Ergebnis der neueren Geschichte der Menschheit, daß die Abhängigkeit des Rechts- und Geisteslebens vom Wirtschaftsleben überwunden werden muß. Und während weite sozialistische Kreise heute denken, das Wirtschaftsleben müsse zunächst anders gestaltet werden, dann ergebe sich alles andere von selbst, hat man sich die Frage vorzulegen: Welche Verhältnisse müssen auf dem Gebiete des Rechtes, des Geisteslebens für sich geschaffen werden, damit aus dem erneuerten geistigen, aus dem erneuerten Rechtsleben heraus wirtschaftliche Zustände entstehen, die den Forderungen eines menschenwürdigen Daseins entsprechen? Nicht: Wie machen wir immer mehr und mehr das Rechtsleben, das Geistesleben abhängig vom Wirtschaftsleben? - sondern: Wie kommen wir heraus aus der Abhängigkeit? - das ist es vor allen Dingen, was gefragt werden muß.