Staat den Deutschen Gott oder Dreck

Quelle: GA 190, S. 095-108, 2. Ausgabe 1971, 30.03.1919, Dornach

Für diese Dinge muß man durchaus ein Gefühl sich erwerben, ein solches Gefühl, daß man verlangt, im Konkreten zu hören über die Beziehungen der physischen und der überphysischen Welt.

Und nur wenn wir uns erfüllen mit solchen konkreten Vorstellungen des Zusammenhanges zwischen der physischen und der überphysischen Welt, können wir wiederum zurückkehren zu dem, was in anderer Weise Menschen älterer Erdepochen gehabt haben, können zurückkehren zu weit ausgreifenden Weltinteressen. Wir können fragen: Warum ist denn all das Unglück über die Erde hereingebrochen, das über die Erde hereingebrochen ist? Ja, der letzte Grund ist doch der, daß die Interessen der Menschen so enge geworden sind, daß sie kaum über das Alleralltäglichste hinausgehen. Selbstverständlich, wenn der Mensch aufhört, sich für die Sterne zu interessieren, dann beginnt er sich für den Kaffeeklatsch zu interessieren; wenn der Mensch aufhört, die Beziehungen der höheren Hierarchien in einigen Gedanken zu überblicken, so beginnt in ihm die Sehnsucht, seine Zeit im alltäglichen Spiel zu vertändeln. Man sehe sich nur die Interessen an, welche seit ein paar Jahrhunderten die führend gewordenen Kreise der Menschheit erfüllen, man sehe an, was diese Leute vom Morgen bis zum Abend tun! Und wenn man das mit Verständnis ansieht, so wird man sich nicht wundern, daß ein solches Debakel der Menschheit eingetreten ist, wie es eingetreten ist. Die Menschen sind ja heute froh, wenn sie über irgend etwas nur eine mit ein paar Worten umrissene Vorstellung gewinnen können! Sie sind froh, wenn sie in bequemer Weise das eine oder das andere umfassen können.

Die Entwickelungsgeschichte der Menschheit spricht ja laut und deutlich über die verschiedenen Möglichkeiten, die Dinge anzusehen. Unzählig sind in dieser Richtung die Beispiele. In den letzten Jahren hat man zum Beispiel der deutschen Kultur immer wieder und wiederum vorgeworfen, daß sie einen Hegel hat mit seiner Staatstheorie, daß von Hegel gesagt worden ist: der Staat ist zuletzt etwas wie eine Art Gott auf Erden. Ja, aber man bedenke, daß innerhalb des deutschen Geisteslebens nicht nur Hegel vorhanden war, sondern Stirner, und zwar gar nicht viele Jahre getrennt von Hegel. Während für Hegel der Staat etwas war wie der wandelnde Erdengott, war für Stirner der Staat überhaupt ein Dreck, etwas, was man nur zu negieren hat.

Die beiden lebten sehr nahe nebeneinander. Man kann sich keine größeren Extreme denken, beide aus demselben Geistesleben heraus. Will man dann solch ein Geistesleben darstellen, dann muß man es schon so machen, wie ich es zum Beispiel in meinen «Rätseln der Philosophie» gemacht habe, wo der eine mit demselben Anteil dargestellt wird wie der entgegengesetzt Denkende. Sie können bei mir zuerst so über Hegel lesen, daß Sie glauben könnten, ich stünde auf Hegelschem Standpunkt; dann können Sie bei mir lesen über Stirner so, daß Sie glauben könnten, ich stünde auf Stirnerschem Standpunkte. Damit soll aber nichts anderes angedeutet sein, als daß wir uns erziehen sollen zu einem Verständnis für die Vielseitigkeit der Menschen, zu einer inneren Toleranz! Uns soll interessieren dasjenige, was in der Seele des anderen ganz anders gedacht ist als unser eigenes Gedachtes; denn wir sollen das Gefühl haben, daß dieses Andere das Unsere ergänzt. Sagen wir, da seien einzelne Menschen, zehn einzelne Menschen (es wird gezeichnet), ich sei einer davon, die anderen neun sind da herum. Nun sage ich mir: Ich denke über gewisse Sachen so, der zweite denkt so, der dritte so, der vierte und fünfte so, alles untereinander mehr oder weniger variiert und verschieden; alle haben wir recht, keiner hat recht. Wenn wir ungefähr das arithmetische Mittel aus alledem erfühlen, wenn wir uns im Zusammenhang so fühlen, daß wir alles mit gleicher Liebe auffassen, gleichgültig ob wir es sagen, oder es die anderen sagen, daß wir lernen, uns in der Gesamtheit drinnen zu fühlen, dann eilen wir gemeinsam der Bestimmung entgegen, die für die Menschen der Zukunft da ist. Dieses Entgegeneilen müssen wir anstreben. Wir müssen es einfach aus dem Grunde anstreben, damit wir einen Sinn bekommen für wirkliches soziales Leben. Wir müssen lernen fühlen, drinnenzustehen in dem, was von dem Sprachgenius umfaßt wird, drinnenzustehen in dem, was von dem gemeinsamen Rechtsleben, von dem Rechtsgenius umfaßt wird; wir müssen lernen, drinnenzustehen in dem, was von dem gemeinsamen Wirtschaftsgenius umfaßt wird: erst dieses lebendige Sich-Drinnenfühlen in einem Ganzen, das sich bewußt der Mensch aneignen muß im Bewußtseinszeitalter, erst das treibt ihn der Zukunftsbestimmung der Menschheit entgegen. Dieses Entgegengehen der Zukunftsbestimmung können wir uns aber nicht anders aneignen, als wenn wir unsere Interessen immer weiter und weiter machen; das heißt aber mit anderen Worten: Wenn wir immer mehr von uns loskommen lernen.

Ja, meine lieben Freunde, geht man ganz ehrlich mit sich zu Rate, so wird man zuletzt doch finden, daß eigentlich das Alleruninteressanteste von der ganzen Welt dasjenige ist, was man selber über sich im Kreise des engsten Ich denken und empfinden kann. Über dieses engste Ich empfinden und denken allerdings viele Menschen in der Gegenwart sehr viel. Daher ist ihr Leben so langweilig, daher sind sie so unbefriedigt vom Leben. Wir werden niemals interessant, wenn wir uns in diesem Punkt nur immer so herumdrehen. Dagegen wenn wir nach außen schauen und immer auf das blicken, wie die Außenwelt zu uns hinstrahlt, wenn wir die Interessen immer mehr erweitern, dann wird unser Ich interessant dadurch, daß es uns einen Standpunkt abgibt für die Beobachtung der Außenwelt, dann wird unser Ich erst dadurch bedeutend, daß gerade in diesem Punkte des Ich nur wir ja die Welt sehen können, kein anderer. Ein anderer sieht sie wieder von einem anderen Standpunkte aus.