Anarchie statt Gewalt kann am ehesten Menschen befreien

Quelle: GA 032, S. 258-262, 2. Ausgabe 1971, 06.1899

Seit dem Erscheinen seiner Gedichte «Sturm» im Jahre 1888 wird John Henry Mackay der «erste Sänger der Anarchie» genannt. Er hat in dem großangelegten Buch, das wie kein anderes die sozialen Strömungen des ausgehenden Jahrhunderts in durchsichtig klarer, umfassender und aus einer tiefen Kenntnis der Kulturfaktoren unserer Zeit entspringenden Art schildert, in seinen «Anarchisten», 1891 betont, daß er auf diesen Namen stolz sei. Und er darf es sein.

Denn durch ihn hat die Weltanschauung ihren dichterischen Ausdruck gefunden, die von allem Erdenkbaren, soviel wir sehen können, allein fähig ist, den Menschen aus den Fesseln zu erlösen, die ihm jahrtausendelang Vorurteil und Gewalt auferlegt haben. Was es bedeutet, daß er seine Dichterkraft in den Dienst dieser Weltanschauung gestellt hat, das geht aus den Worten hervor, mit denen er sein «Kulturgemälde aus dem Ende des Jahrhunderts: Die Anarchisten» einleitet. «Auf keinem Gebiete des sozialen Lebens herrscht heute eine heillosere Verworrenheit, eine naivere Oberflächlichkeit, eine gefahrdrohendere Unkenntnis als auf dem des Anarchismus. Die Aussprache des Wortes schon ist wie das Schwenken eines roten Tuches - in blinder Wut stürzen die meisten auf dasselbe los, ohne sich Zeit zu ruhiger Prüfung und Überlegung zu lassen.» Nichts anderes ist ja des Anarchisten Überzeugung, als daß ein Mensch nicht über Denken, Wollen und Fühlen des anderen herrschen kann, daß nur ein Zustand des Gemeinschaftslebens fruchtbar sein kann, in dem sich jeder selbst Richtung und Ziel seines Wirkens vorzuzeichnen in der Lage ist. Bisher glaubte jeder zu wissen, was allen Menschen in gleicher Weise frommt. Und das Gemeinschaftsleben wollte man so einrichten, daß das «Ideal von Mensch», das man im Auge hatte, erreicht werde. Allein wie kann Hinz wissen, ob es dem Kunz entspricht, das «Ideal von Mensch» zu verwirklichen, das der Hinzianismus für das «wahrhaft Ideale» hält? Religion, Staat, Gesetze, Pflicht, Recht usw. sind entstanden, weil Hinz glaubte, dem Kunz sagen zu müssen, wodurch er der Kunz - an sein Ziel kommen könne. Alles hat der Hinz für Kunzens wohlbedacht, nur das eine nicht, daß, wenn der Hinz dem Kunz die Wege zu seinem Glück vorzeichnet, er dem Kunz die Möglichkeit nimmt, selbst für sein Glück zu sorgen.

Nichts anderes aber will der Anarchismus, als dem Hinz begreiflich machen, daß er für den Kunz am besten sorgt, wenn er ihn nicht nach Hinzens, sondern nach Kunzens Art am besten selig werden läßt.

Einen schönen Ausdruck hat J. H. Mackay dieser Anschauung in dem (auf S. 444 seiner «Gesammelten Dichtungen» stehenden) Gedichte «Anarchie» gegeben

Immer geschmäht, verflucht - verstanden nie,
Bist du das Schreckbild dieser Zeit geworden ...
Auflösung aller Ordnung, rufen sie,
Seist du und Kampf und nimmerendend Morden.
0 laß sie schrei'n! - Ihnen, die nie begehrt,
Die Wahrheit hinter einem Wort zu finden,
Ist auch des Wortes rechter Sinn verwehrt.
Sie werden Blinde bleiben unter Blinden.
Du aber, Wort, so klar, so stark, so rein,
Das alles sagt, wonach ich ruhlos trachte,
Ich gebe dich der Zukunft! - Sie ist dein,
Wenn jeder endlich zu sich selbst erwachte.
Kommt sie im Sonnenblick? - Im Sturmgebrüll?
Ich weiß es nicht ... doch sie erscheint auf Erden!
«Ich bin ein Anarchist!» - «Warum?» - «Ich will
Nicht herrschen, aber auch beherrscht nicht werden!»

Es ist traurig, daß es geschehen muß: Aber es ist nötig, es immer wieder und wieder zu sagen, daß der wahre Anarchismus nichts zu tun hat mit dem lächerlichen Gebaren jener unglückseligen und unklaren Gesellen, welche die gegenwärtigen Gesellschaftsordnungen mit Gewalt zu überwinden trachten.

Nein, dieser «Anarchismus» ist nichts weiter als der gelehrige Schüler dieser selben Gesellschafts-Einrichtungen, die zu allen Zeiten ihre Ideale «Religion, Nationalität, Staat, Patriotismus, Gesetz, Pflicht, Recht usw.» den Menschen durch Inquisition, Kanone und Zuchthaus begreiflich zu machen gesucht haben. Der wahre Anarchist ist Gegner aller Gewaltmaßregeln, auch derjenigen, die sich frech den Titel «Anarchismus» anmaßen.

Gleiche Möglichkeit für die freie Entfaltung der Persönlichkeit will der wahre Anarchismus. Und es gibt keine größere Einschränkung der Persönlichkeit, als ihr mit Gewalt beibringen wollen, was sie sein soll.

Die Einwände all der gescheiten Leute zu widerlegen, welche dieses Bekenntnis der Anarchisten als einen «frommen Glauben» hinstellen und darauf hinweisen, daß die ganze nationalökonomische Wissenschaft die Widerlegung dieses Glaubens dartue, ist hier nicht meine Sache. Der Anarchismus hat eine umfangreiche Literatur, die sein nationalökonomisches Fundament jedenfalls besser baut als die Bekenner des Staats- und irgendwelchen anderen Sozialismus dies für das ihrige vermögen. Man braucht bloß Tuckers ausgezeichnete Schriften zu lesen, um sich davon zu überzeugen.

Aber nicht auf die Begründung des wahren Anarchismus kommt es mir hier an, sondern auf die Stellung J.H. Mackays innerhalb desselben.

Es ist ein Glückszufall allerersten Ranges, daß diese anarchistische Weltanschauung in Mackay einen Sänger gefunden hat. Künftigen Zeitaltern mag es überlassen bleiben zu beurteilen, was die begeisterten und begeisternden Dichtungen dieses Mannes zu der Weltanschauung der Zukunft beigetragen haben.

Uns aber geziemt es zu sagen, daß dieser Mann, der schwere, seltene Kämpfe durchgemacht hat, um sich zum anarchistischen Bekenntnisse zu erheben, nicht einseitig als «Dichter» genommen sein darf. John Henry Mackay ist ein Kulturfaktor innerhalb der gegenwärtigen Entwickelung des europäischen Geisteslebens. Und er hat ein volles Recht darauf, von dem hier besprochenen Bande seiner Dichtungen zu sagen - «Mehr als einmal hat mir eine Sentimentalität, eine Selbsttäuschung, eine Überschwenglichkeit ein Lächeln entlockt, wenn der Stift die Seiten durchging, um hie und da ein Wort - absichtlich indessen immer nur ein einzelnes - in ein anderes zu wandeln. Aber dieser Band bedeutet eben eine Entwicklung, und gerade darum durften nicht nachträgliche willkürliche Lücken in ihren selbständig entstandenen Bau gerissen werden, ganz abgesehen davon, daß es der Wunsch, ein vollständiges Bild dieser Entwicklung zu geben, war, dem überhaupt diese Ausgabe ihr Entstehen verdankt. Mag daher das Stärkere das Schwache zu halten versuchen oder das eine fallen mit dem andern - jedenfalls sollte der Anspruch dem Einsichtigen gerecht erscheinen, daß ein ganzer Mensch verlangen darf, ganz genommen zu werden.»

Inwiefern dieser Ausspruch gerade bei J. H. Mackay berechtigt ist, wird mir obliegen, in einem nächsten Aufsatz zu zeigen.