Fremdliebe erst durch Selbstliebe möglich

Quelle: GA 032, S. 230-236, 2. Ausgabe 1971, 01.1899

Ein Rätsel schien bis vor kurzem Maurice Maeterlinck. Den Tonfall der christlichen Mystiker glaubte man in seinen Reden zu vernehmen; und die gottlosen Menschen der modernen naturwissenschaftlichen Weltanschauung konnten den Lockungen dieser Reden nicht widerstehen. Die Macht des Gedankens, daß der Mensch sich nach durchaus ungöttlichen, rein natürlichen Gesetzen aus niederen Organismen entwickelt hat und daß nur diese Erde ein jenseitiger Himmel der Quell unserer Freuden sein kann, schützte nicht vor dem Zauberklang der Worte Maeterlincks: «Fürwahr, wir handeln schon wie Götter, und all unser ganzes Leben verläuft unter unendlichen Gewißheiten und Untrüglichkeiten.

Aber wir sind Blinde,die längs der Straßen mit Juwelen spielen; und jeder Mensch, der an meine Tüte klopft, gibt im Augenblicke, wo er mich begrüßt, ebenso wunderbare geistige Schätze aus, wie der Fürst, den ich dem Tode entrissen hätte.» Seit Maeterlinck - im Oktober des vorigen Jahres - sein neuestes Werk: «La sagesse et la destinée» (Paris, Librairie Charpentier) veröffentlicht hat, ist es nicht mehr schwierig, den oben bezeichneten Widerspruch zu lösen. In diesem Buche tritt uns eine moderne Seele entgegen, die aus den Eierschalen des Mystizismus sich gelöst hat. Wir glauben Zarathustras mutwillige Weisheit zu vernehmen, wenn Maeterlinck zu uns spricht: «Intellekt und Willen sollen sich daran gewöhnen, wie siegreiche Soldaten von dem zu leben, was ihnen den Krieg macht.» Und das Bekenntnis des verlästerten Max Stirner scheint von neuem zu sprechen aus Sätzen wie diesen. «Aber man sagt uns: liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Aber wenn man sich selber auf eine engherzige und unfruchtbare Weise liebt, wird man seinen Nächsten auf dieselbe Weise lieben. Man lerne doch weitherzig, gesund, weise und vollkommen sich selbst lieben; das ist weniger leicht, als man glaubt. Die Selbstsucht einer starken und hellsichtigen Seele ist von viel wohltätigerer Wirkung als alle Hingebung einer blinden und schwachen Seele. Ehe man für die andern da ist, hat man für sich selber da zu sein; und ehe man sich weggibt, muß man sich sein Selbst sichern. Sei versichert, daß die Erwerbung eines Bruchteils deines Selbstbewußtseins im tiefsten Grunde mehr wert ist, als die Hingabe deiner gesamten Unbewußtheit.»

Und Stirner, der dem Egoismus das hohe Lied «Der Einzige und sein Eigentum» gesungen hat, müßte bewundernd stehen vor dem Abgott der modernen Mystiker, wenn dieser spricht: «Nicht durch Aufopferung wird die Seele größer, sondern im Größerwerden verliert sie die Aufopferung aus den Augen, wie der Wanderer, wenn er höher steigt, die Blumen des Tales aus den Blicken verliert. Aufopferung ist ein schönes Zeichen vom inneren Mitleiden; aber man sollte nie das Mitleiden um seiner selbst willen pflegen.» Oder: «Die Kraft, die in unserm Herzen leuchtet, soll vor allem für sich selber leuchten. Nur um diesen Preis wird sie auch den andern leuchten; und so klein auch die Lampe sein mag, gebe keiner von dem Öle, das sie nährt, er gebe von dem Lichte, das sie krönt!»

Vor zwei Jahren, als Maeterlincks «Trésor des Humbles» erschien, konnten die modernen Heiden den Mystikern nichts erwidern, die den verzückten Belgier einen der Ihrigen nannten. Heute nach der Herausgabe von «La sagesse er la destinée» wird der Jubel der Mystiker geringer sein.