Religion als Objektives durch Verstaatlichung

Quelle: GA 171, S. 177, 1. Ausgabe 1964, 01.10.1916, Dornach

Die äußere Geschichte tut ja heute im allgemeinen recht wenig, um einem Menschen begreiflich zu machen, warum die Dinge, die um ihn herum vorgehen, so sind, wie sie eben sind. Die äußere Geschichte, die heute zum großen Teil in den inneren Werdegang der Dinge nicht hineinblicken will, die registriert das, was äußerlich geschieht, und betrachtet immer das Frühere, was geschehen ist, eben als die Ursache des Folgenden, man möchte sagen, in der einfachsten, bequemsten Weise.

Aber wenn man in einer solchen einfachen, bequemen Weise die Dinge auf ihre Ursachen zurückführt, wie es die Geschichte heute vielfach tut, dann kommt man zu richtigen Absurditäten. Denn man würde letzten Endes anlangen müssen bei der Anschauung, daß das meiste, ja vielleicht das Ausgebreitetste, was geschieht, nicht dem Sinn, sondern dem Widersinn sein Dasein verdankt. Daß nicht Sinn in der Geschichte ist, sondern daß Unsinn in der Geschichte ist, würde man sich gestehen müssen, wenn man die letzten Konsequenzen der Anschauungen zöge, denen man sich heute vielfach hingibt. Nehmen wir ein Beispiel, das jeder ins Auge fassen kann, wenn er die äußere Geschichte durchgeht.

Fragen wir zum Beispiel nach dem Ursprunge der englischen Religionsgenossenschaft, der anglikanischen Kirche, der viele Menschen angehören, und suchen wir ihren äußeren historischen Ursprung. Nun, da werden wir finden, daß vom Jahre 1509 bis 1547 Heinrich VIII. regiert hat, daß dieser Heinrich VIII. sechs Frauen hatte. Die erste wurde durch Scheidung von ihm getrennt, aber diese Scheidung spielt, rein äußerlich betrachtet, eine große historische Rolle. Katharina von Aragonien, von ihr ließ er sich scheiden. Die zweite, Anna Boleyn, ließ er hinrichten. Die dritte, Johanna Seymour, starb. Von der vierten ließ er sich wieder scheiden. Die fünfte, Katharina Howard, wurde wieder hingerichtet. Nur die sechste überlebte ihn, und wenn man die Geschichte weiter prüft, eigentlich nur durch eine Art von Irrtum, denn auch ihr war ein anderes Schicksal zugedacht. Diese etwas komplizierte Ehegeschichte Heinrichs VIII., der, wie gesagt, vom Jahre 1509 bis 1547 regierte, möchte ich weniger ihres historischen Inhaltes willen anführen, als mehr um hinzuführen zu einer Betrachtung des Charakters Heinrichs VIII. Denn man kann schon etwas Anschauung über den Charakter bekommen, wenn man weiß, daß eine Persönlichkeit zwei Frauen hat hinrichten lassen und sich von einer gewissen Anzahl hat scheiden lassen und so weiter.

Nun aber, rein äußerlich, historisch genommen, spielt die Scheidung von der ersten, von Katharina von Aragonien, eine gewisse bedeutsame Rolle; denn man braucht nur zwei Ereignisse ins Auge zu fassen, um diese gewichtige Rolle äußerlich zu charakterisieren.

Erstens wurde, weil der Papst sich weigerte, die Ehe zu scheiden, der «Defensor fidei», der Verteidiger des Glaubens, wie er sich zuerst nannte, das heißt des katholischen, von Rom ausgehenden Glaubens, Gegner des Papstes, Gegner der von Rom aus zu führenden katholischen Kirche, und trennte einfach durch seine Machtmittel die englische Kirche von der allgemeinen katholischen Kirche, so daß eine Art Reformation eintrat; aber eine Reformation ganz eigener Art, darin bestehend, daß die alten Gebräuche, Zeremonien, Ritualien beibehalten wurden. Es war also nicht so, wie es bei den Protestanten war, daß wirklich aus einer geistigen Grundlage und geistigen Kraft heraus eine Erneuerung gesucht worden ist, sondern es wurde alles Religiöse beibehalten. Nur innerhalb Englands sollte die Kirche abgetrennt werden von der allgemeinen katholischen Kirche, weil eben der Papst sich weigerte, die Ehe Heinrichs VIII. zu scheiden. Also um eine andere Frau zu bekommen, begründete dieser Mann für sein Volk eine neue Kirche, die seither besteht. Wir haben also die äußere historische Tatsache, daß Millionen und Millionen von Menschen durch Zeitalter hindurch in einem Glaubenszusammenhange leben, weil eines Königs Scheidung nur dadurch bewirkt werden konnte, daß er diesen Glaubenszusammenhang schuf! Es ist äußerer historischer Zusammenhang. Ist das nicht eine Absurdität? Und wenn man genauer sich die Sache ansieht, dann kommt auch noch eine innere Absurdität dazu, eine richtige innere Absurdität; denn es ist gar nicht zu leugnen, daß Tausende und aber Tausende von Menschen seit der Scheidung Heinrichs VIII., das heißt seit der Begründung der englischen Kirche, in diesem Glaubenszusammenhange, der auf so fragwürdige Weise entstanden ist, wirklich tiefes religiöses inneres Leben gefunden haben. Das heißt: Es entsteht etwas in der Geschichte durch eine höchst fragwürdige Ursache, und die Früchte, die eintreten, können für Tausende und aber Tausende von Menschen die am meisten innerlich Seelenheil bringenden sein, sind es auch gewesen. Man ziehe nur die Konsequenzen der Dinge. Man huscht so über die Dinge in ihrer Entwickelung hinweg; aber man ziehe die Konsequenzen solcher Dinge, dann wird man sehen, daß man auf die verschiedensten Absurditäten kommt, wenn man unter dem Gesichtswinkel die Tatsachen betrachtet, unter dem man sie heute betrachtet.

Ich sagte, diese eine Tatsache ist eingetreten; aber auch noch eine andere Tatsache haben wir zu verzeichnen. Das ist die Tatsache der Hinrichtung des Thomas Morus [...].

Und so sehen wir gerade in einer solchen Hinrichtung, wie die des Thomas Morus ist, in diesem Zeitalter und in der Entstehung der englischen Kirche zwei Ereignisse, die, wenn man sie ihrem Sinne nach kennt, ihrem tieferen Sinne nach kennenlernen will, eben auch tiefer betrachtet werden müssen. Nur unter gewissen Voraussetzungen kann man verstehen, warum die angedeutete Entwickelung sich so, wie sie geschildert worden ist, vollzogen hat. Man kann diese Entwickelung nur verstehen, wenn man gerade hervorragende Geister betrachtet innerhalb dieser Entwickelung, wie sie gefolgt ist auf das Zeitalter und auf die Taten Heinrichs VIII.

Betrachten wir zunächst nur den Umstand, daß da ein Glaubenszusammenhang geschaffen worden ist, um eine Ehescheidung herbeizuführen. Wie gesagt, für den einzelnen Menschen, wenn er religiös veranlagt war, brauchte das gar keine besondere Wirkung zu haben, denn er konnte sein Heil finden auch innerhalb der so entstandenen Kirche. Viele fanden es. Aber im ganzen geschichtlichen Zusammenhang, im geschichtlichen Werden seit jener Zeit sehen wir schon, daß durch diese äußerliche Herstellung eines Glaubenszusammenhanges etwas ganz Besonderes bewirkt worden ist. Dazu muß ins Auge gefaßt werden, was an geistigen Impulsen gerade von der Kulturgemeinschaft ausgegangen ist, in die dieser religiöse Zusammenhang hineingestellt worden ist. Man muß da bei einer objektiven Betrachtung sich klar darüber sein, daß, nachdem in Europa der südwestliche Einfluß an geistigen Impulsen mehr und mehr zurückzusinken begann, der Einfluß der englischen Kultur immer mehr und mehr wuchs. Der Einfluß der englischen Geistesimpulse wurde immer stärker und stärker, wurde stark zunächst auf dem Westen des europäischen Kontinents, dann auf dem ganzen europäischen Kontinent, und wenn man von den stärksten Einflüssen in geistiger Beziehung mit Bezug auf das 18. und 19. Jahrhundert für Europa sprechen will, so muß man natürlich die von England ausgehenden Impulse ins Auge fassen.

Da treten nun gewisse Leute auf innerhalb der englischen Kultur selber, welche von diesem Kulturimpulse beseelt sind; da treten zum Beispiel auch innerhalb Frankreichs gewisse Leute auf, in denen diese Kulturimpulse leben. In England Philosophen, zum Beispiel der außerordentlich einflußreiche Philosoph Locke. Gewiß, heute wissen nicht viele Leute etwas von Locke, aber die Einflüsse solcher Leute gehen durch Tausend und aber Tausend für das äußere Leben unsichtbare Kulturkanäle, und Locke hat einen ungeheuren Einfluß gehabt auf Voltaire, und wie hat Voltaire das europäische Denken beeinflußt! Aber Voltaires Einfluß geht auf Lockes Einfluß zurück. Wie viel ist geschehen unmittelbar unter dem Einflusse Locke-Voltaires! Wie viele Gedanken wären nicht über Europa gekommen, wenn dieser Impuls Locke-Voltaires nicht gewesen wäre. Wie anders hätte sich das politische, das soziale Leben in Europa abgespielt, wenn Locke-Voltaire die europäische Seele nicht mit Gedanken gespeist hätten. In Frankreich sehen wir zum Beispiel wiederum dieselben Impulse leben in dem ungeheuer einflußreichen Montesquieu. Wenn wir dann auf den weiteren Gedankeneinfluß auf dem Kontinente sehen, so sehen wir, wie durch Hume, wie später durch Darwin das menschliche Denken revolutioniert wird. Und wiederum sehen wir, wie durch Locke-Voltaire, so durch Hume-Darwin ein ungeheurer Einfluß ausgeübt wird. Und als Marx, der Begründer des modernen Sozialismus, der einen Einfluß hat, welcher heute von denen, die sich Gebildete nennen, noch gar nicht abgeschätzt werden kann, weil dieser Einfluß in den breitesten Schichten lebt - als Marx sein grundlegendes Werk «Das Kapital» zu schreiben begann und seine Studien machte, da ging er nach England! Gewiß lebte Hegelianismus in Marx, aber darwinistisch gefärbter Hegelianismus. Und wer das Verfassungsleben der einzelnen europäischen Staaten im 19. Jahrhundert studiert, wer die Verfassungskämpfe studiert, der wird kennenlernen, wie tiefgehend der Einfluß der von dorther kommenden Kulturimpulse war. Das alles kann ja hier nur angedeutet werden.

Wenn wir nun aber gerade die hervorragenden Persönlichkeiten, die also Europa eine gewisse Physiognomie geben, ins Auge fassen, dann finden wir bei ihnen überall ein besonders entwickeltes, abstrakt-rationalistisches Denken, ein solches Denken, wie es ein gutes, ein vorzügliches Instrument ist, um die physische Welt, die materielle Welt zu erforschen, kennenzulernen, zu behandeln und so weiter. Sowohl in Locke-Voltaire, in Montesquieu, wie in Hume-Darwin, in allem, was von ihnen abhängig ist, lebt Fähigkeit, und diese Fähigkeit pflanzt sich in das europäische Denken fort, auch in das europäische Gefühlsleben - derjenige, der nichts weiß davon, ist deshalb doch tief davon beeinflußt - und schafft eine Art von Denken, die besonders geeignet ist, die materiellen Zusammenhänge der Welt zu erkennen und zu behandeln, soziale Ordnungen zu schaffen, welche auf die materiellen Zusammenhänge gehen.

Nun sehen wir eine gewisse Begleiterscheinung, die nicht ohne Bedeutung ist, ganz und gar nicht ohne Bedeutung ist, bei allen diesen Denkern auftreten. Diese Denker sind scharfe, zuweilen genialische Denker, eindringliche Denker in bezug auf die materiellen Zusammenhänge der Welt; aber sie alle sind Denker, welche zur religiösen Entwickelung der Menschheit eine eigentümliche Stellung einnehmen, welche das Denken durchaus nicht anwenden wollen auf die Gebiete des religiösen Lebens. Weder Locke, noch Hume, noch Darwin, noch Montesquieu wollen das Denken auf das anwenden, was sie für Gegenstände des religiösen Lebens halten. Aber sie fechten dieses religiöse Leben auch nicht an, sondern sie nehmen es hin, so wie es sich in der Geschichte einmal herausgebildet hat. Sie nehmen es als eine Tatsache hin. In diesen Kreisen war ein Ausspruch ganz gang und gäbe: Man ist Katholik, man ist Protestant, so wie man Franzose oder Engländer ist; - das heißt: man nimmt es als etwas, was eben da ist, hin, man kritisiert daran nicht; man fügt sich da hinein, man läßt das stehen. Aber man tippt auch nicht mit dem Denken an die Dinge! Ein so energischer, scharfer Denker wie Hume lebt gerade in dieser Empfindung, in diesem Gefühle, auch Montesquieu lebt in diesem Gefühl, in dieser Empfindung: stehen lassen das religiöse Leben, aber es anerkennen im äußeren Leben; ja nicht den Scharfsinn, den man auf materielle Dinge so sehr anwendet, irgendwie geltend machen in bezug auf die Angelegenheiten der geistigen Welt.

Diese geschichtliche Folge, die ist geistig durchaus bedingt durch die gleichgültige Einrichtung der englischen Religion durch Heinrich VIII. Das ist der innere Sinn der Sache. Diese Stimmung, die ausgegossen wird über unzählige europäische Impulse, die ist abhängig davon, daß ein gewisser Religionszusammenhang geschaffen worden ist durch das gleichgültige Ereignis, daß sich ein Mann scheiden lassen will. Dieses gleichgültige Ereignis, daß sich ein Mann scheiden lassen will, das steht am Ausgangspunkt, und das ergibt die Stimmung, überhaupt sich nicht zu kümmern um diese Sache, aber sie auch gelten zu lassen durch Generation und Generation, Jahrhunderte und Jahrhunderte. Und so wie es war in bezug auf das Denken über die religiösen Angelegenheiten, hat es nur dadurch kommen können, daß dieses historische Ereignis am Ausgangspunkt gestanden ist. Nur wenn man die Dinge innerlich betrachtet, dann findet man den entsprechenden Zusammenhang.