Keine politische aus nationaler Einheit

Quelle: GA 162, S. 045-046, 1. Ausgabe 1985, 24.05.1915, Dornach

Alles geht ja in der gegenwärtigen Menschheit dem Ziele zu, diesen Menschen als solchen zu verleugnen und anderes als den Menschen hinzustellen als dasjenige, für das man kämpfen, für das man arbeiten, an das man denken soll. Es muß immer wieder und wiederum - wenigstens an die Empfindungswelt derer, die im Bereich der Geisteswissenschaft stehen wollen - appelliert werden: Größtes in der neueren Entwicklung, das Keime enthält und das die Menschheit erlangen muß, Größtes ist dadurch erreicht worden, daß zurücktrat in gewissen Strömungen der Menschheitskultur dasjenige, was bloß nationale Kultur, was bloß nationale Aspiration genannt werden kann: denn der wahre innere Zug geht dahin, daß das Nationale durch das Geistige im Entwicklungsgang der Menschheit überwunden wird. Entgegen dem Fortschritte der Menschheit arbeitet alles das, was auf Vereinheitlichung von Weltterritorien unter nationalen Gesichspunkten arbeitet. Gerade dort kann sich zuweilen im schönsten Maße entwickeln dasjenige, was vorwärts führt, wo abgeschlossen - von einem Gesamt-Massiv getrennt - ein Teil einer Nationalität lebt, von der großen Masse der Nationalität abgesondert. Wie etwa wirklich Bedeutsames geleistet wurde dadurch, daß es außer den Deutschen im Deutschen Reiche noch Deutsche in Österreich, abgesondert von diesen, gibt, - und Deutsche in der Schweiz, abgesondert von diesen, gibt. Und es wäre entgegen nicht nur dem Fortgange dessen, was man sonst denkt, sondern entgegen der Idee des Fortschritts, zu denken, daß eine Uniformität unter einem nationalen Grundgedanken diese drei Glieder in einer einzigen Nationalität zusammenschließen sollte mit Außerachtlassung eben des Großen, das gerade durch unsere politische Trennung kommt. Und man kann gar nicht ahnen, wie unendlich bitter und traurig es ist, wenn der nationale Gesichtspunkt für die Bildung von politischen Zusammenhängen als der einzige von gewissen Seiten her heute geltend gemacht wird, wenn von nationalen Gesichtspunkten aus gerade die Abgrenzungen erstrebt werden, Absonderungen erstrebt werden. Man kann aller Politik fernstehen, aber in Trauer verfallen, wenn diese allen wirklichen Fortschrittskräften widerstrebenden Kräfte in den Vordergrund gestellt werden. Ein trauriges Pfingsten, an welchem solche Worte sich aus der Seele herausdrängen, meine lieben Freunde!