Weltwirtschaft verlangt eine einheitlich wirkende Geistigkeit

Quelle: GA 305, S. 217-222, 3. Ausgabe 1991, 28.08.1922, Oxford

Wir müssen erst die Möglichkeit finden, zu erkennen, was in den anderen drinnensitzt an Seelischem und Geistigem und was in uns drinnen sitzt, wenn wir uns zusammensetzen wollen mit ihnen in den Assoziationen. Wir müssen die Klüfte überbrücken, die sich gebildet haben. Das ist dasjenige, was die erste Anforderung ist.

Daher ist die soziale Frage in ihrem tiefsten Sinne zuallererst eine geistige Frage: Wie breiten wir eine einheitlich wirkende Geistigkeit unter den Menschen aus? Dann werden wir auf wirtschaftlichem Gebiete uns in Assoziationen zusammenfinden können, aus denen heraus sich erst die soziale Frage in einer konkreten Weise wird gestalten und partiell - muß ich immer sagen - lösen lassen.

Aber wir denken heute noch ganz in den alten Kategorien. Wir bilden juristisches Denken, aber wir bilden noch nicht ökonomisches Denken, weil - so paradox es klingt - ökonomisches Denken bedeutet: in Freiheit denken. Man braucht gerade in der Zeit, in der eine zweite Natur in den Produktionsmitteln aufgetaucht ist, in dieser Zeit, wo der Geist aus den Arbeitsmitteln, aus den Produktionsmitteln ganz gewichen ist, braucht man gerade eine Geistigkeit, die nun nicht geschöpft ist mehr aus der Natur, die nicht geschöpft ist in der Weise, wie sie in der Theokratie geschöpft wurde aus demjenigen, was noch mehr physisch im Menschen lebte, sondern die frei errungen ist, und die aber einen Inhalt hat.

Ich weiß, daß das heute den Menschen gerade am Allerutopistischesten klingt, es ist aber das Allerpraktischeste. Sie können noch so viele soziale Gemeinschaften gründen, noch so viele Vereinigungen in die Welt schaffen, noch so viele Gewerkschaften und Genossenschaften schaffen - mit den Begriffen, mit dem Denken, das sich aus dem Mittelalter heraus in die neuere Zeit eingeschlichen hat, mit dem Denken kommt die soziale Frage nicht einmal in Fluß, geschweige denn zu einer partiellen Lösung. Die soziale Frage ist heute die Weltfrage geworden. [...]

Das ist dasjenige, was man mit seinem ganzen Herzen fühlen muß als den Grundimpuls des sozialen Organismus in unserer Zeit, der eigentlich schon der Weltorganismus ist, den man aber überall bloß eigentlich im nationalen Sinne sieht. Und das ist dasjenige, was doch heute der Menschheit klar werden sollte, daß man vor allen Dingen etwas braucht, was die Brücke schafft zwischen den Abgründen, die in der sozialen Ordnung da sind.

Warum reden wir heute so viel von der sozialen Frage? Weil wir durch und durch antisozial geworden sind. Man redet gewöhnlich theoretisch am allermeisten von dem, was in der Empfindung und in dem Instinkt nicht da ist. Was in der Empfindung und im Instinkt da ist, darüber redet man theoretisch nicht. Wäre soziale Empfindung in der Menschheit, würde man furchtbar wenig von sozialen Theorien und sozialen Agitationen hören. Theoretiker auf irgendeinem Gebiete wird der Mensch, wenn er etwas nicht hat. Die Theorien sind eigentlich immer über dasjenige da, was nicht real ist. Aber wir müssen heute das reale Leben suchen, darauf kommt es vor allen Dingen an. Das erfordert mehr Mühe, als eine Theorie ausdenken. Aber der menschliche Fortschritt kommt auch in nichts weiter, wenn er sich nicht in das Leben wirklich hineinfindet, denn der theoretische Geist ist es, der unsere Welt heute zerklüftet hat, der unsere Zivilisation heute dem Chaos nahe bringt; der theoretische Geist ist es. Und der Lebensgeist, er wird uns einzig und allein weiterführen können.

Das ist es, ich muß es noch einmal sagen, was man tief im Herzen fühlen sollte als den Grundimpuls der sozialen Frage der Gegenwart. Wenn wir verstehen, wie die Menschen wiederum die Menschen finden, dann werden wir die Möglichkeit haben, auch das Soziale in die richtige Richtung zu bringen. [...]

Es handelt sich darum, daß man mit derselben Kraft aus dem Industrialismus heraus wirkt, zu dem man aber jetzt freie Geistigkeit hinzubringen muß, wie man einstmals durch die Theokratie mit der Landwirtschaft, wie man einstmals durch die Jurisprudenz mit dem Händlertum hat wirken können. So kommt es darauf an, daß der Mensch zu sozialer Denkweise, zu sozialen Kenntnissen und Begriffen kommt, die man nicht bekommt, wenn man nicht absieht von abstrakten Begriffen wie «Kapital», «Mehrwert» und so weiter. Soziale Begriffe kann man einzig und allein bekommen, wenn man zu dem kalten Maschinellen das Warme, das offenbarende Geistige hinbringt. Und gerade diejenigen, die heute zwischen den Maschinen herumlaufen, die wollen, wenn sie es auch nicht wissen, eine wirkliche Geistigkeit, damit sie nicht allein den alten Materialismus haben, mit dem sie sonst ihr Herz einzig und allein anfüllen.

Zum Dorf und zur Kirche ist das Land und die Stadt hinzugekommen. Die wurden beherrscht mit einem sozialen Denken. Die Fabrik gehört nicht mehr zur Stadt. Die Fabrik ist ein neues soziales Gebilde. Die Fabrik ist aber auch herausgestellt wie ein besonderer Dämon aus der ganzen Weltordnung. Die Fabrik hat nichts Geistiges mehr an sich. Da muß das Geistige von der anderen Seite hergebracht werden. Daher ist gerade die soziale Frage heutigen Tages im eminentesten Sinne eine spirituelle Frage. Wir müssen die Möglichkeit finden, nicht nur unsere Nase hineinzustecken in das proletarische Elend, sondern wir müssen eine Geistigkeit finden, die aus unserem Herzen herauskommt in ganz naturgemäßer Weise, die aber auch aus dem Herzen desjenigen herauskommt, und wenn es der Mensch des untersten Standes ist, zu dem man spricht. So wie die Sonne allen Menschen scheint, so scheint dasjenige, was wirkliche Geistigkeit ist, nicht diesem oder jenem Stand, nicht dieser oder jener Klasse, führt nicht diesen oder jenen Standes- oder Klassenkampf, sondern ist für alle Menschen. Und daß alle Menschen als Einzelne in die Geschichte eintreten können, das fordert der große welthistorische Augenblick der Gegenwart.