Geisteswissenschaft und soziale Frage

Quelle: GA 054, S. 080-104, 2. Ausgabe 1983, 02.03.1908, Hamburg

Wer heute das Wort « soziale Frage » hört, bei dem regen sich, je nach seiner Lebenslage und Erfahrung und nach dem Ernste, mit dem er das Leben zu nehmen in der Lage ist, die verschiedensten Empfindungen. Und so muß es sein gegenüber einer Frage, welche die heutige Zeit eigentlich tiefer beschäftigen sollte, als sie sie beschäftigt. Zwar scheint das paradox ausgesprochen. Diejenigen, welche unmittelbar berührt werden von dem, was das Wort soziale Frage einschließt, beschäftigen sich gewiß genug mit derselben. Jene aber, die heute noch davor bewahrt sind, in unmittelbare Berührung zu kommen mit dem, was der sozialen Frage als Ursache zugrunde liegt, sind noch immer nicht gründlich genug davon überzeugt, daß diese Frage in unserer Zeit etwas bedeutet, womit sich zu beschäftigen eines jeden denkenden Menschen unbedingte Pflicht ist. Und diejenigen, die in den Tag hineinleben, die Augen wohl auch zumachen vor den Anforderungen des Tages, könnten es erleben, daß entweder sie selbst oder ihre Nachkommen, gerade durch ihre Unkenntnis, üble Erfahrungen machen könnten. Man hört heute noch immer, wenn von sozialer Frage in dem Sinne gesprochen wird, daß unsere Zeit einen Ausweg finden muß aus der Lage, in die viele Menschen durch die Gestaltung unseres sozialen Zusammenlebens geraten sind. Man hört oftmals die Worte: Reiche und Arme habe es immer gegeben, eine soziale Frage habe es immer gegeben, so lange die Menschheit lebt und strebt. Es sei daher nicht zu verwundern, wenn auch in unserer Zeit die, welche nicht mit Glücksgütern gesegnet sind, in einer mehr oder weniger deutlichen Weise dies zum Ausdruck bringen und im Kampfe sich das erobern wollen, was ihnen durch das Geschick nicht zukommt. Reiche und Arme, solche, die bedrückt sind und solche, die mehr oder weniger mit Glücksgütern gesegnet sind, habe es immer gegeben. - Mit diesen Worten will man wohl das ganz Eigenartige und Eigentümliche der sozialen Frage hinwegwischen, unklar machen. Man weist hin auf die Sklavenaufstände des Altertums, auf die Revolten im Mittelalter und auf andere Ereignisse, wo sich die Bedrückten ihr Recht zu verschaffen suchten und tröstet sich mit solchen Erscheinungen.

Ein jeder sollte heute eigentlich wissen, daß das, was man gegenwärtig soziale Frage nennt, wirklich etwas Neues ist im Menschenleben, daß sie etwas ganz anderes ist als ähnliche Bewegungen in andern Zeiten des geschichtlichen Lebens. Denn jene, die heute eine Lösung der sozialen Frage suchen, sind vor allen Dingen Menschen innerhalb unserer gesellschaftlichen Ordnung, die es mit diesem Charakter, so wie sie heute vor uns stehen, erst seit einer kurzen Zeit gibt. Das Bedrückende ist ein Ergebnis höchstens der letzten hundertzwanzig bis hundertdreißig Jahre; das ist geschaffen durch die gegenwärtigen, unendlich bedeutungsvollen Fortschritte der Menschenkultur. Wir sehen diesen Fortschritt heraufkommen mit dem Ende des 18. Jahrhunderts, als jene Maschinen und so weiter den Köpfen unserer Erfinder entsprangen. Seit jenen Zeiten, seit welchen das Leben immer mehr in den Industriezentren und Städten zusammenfließt, entsteht erst der Lohnarbeiter, der Proletarier im heutigen Sinne des Wortes. Was man heute soziale Frage nennt, ist nicht zu trennen von dieser eigentlich erst durch die gewaltigen Fortschritte der Menschenkultur geschaffenen Menschenklasse. Der Sklave des Altertums kämpfte eigentlich nur dann, wenn er sich besonders bedrückt fühlte, und er hatte nicht das Bewußtsein, daß durch irgendeine andere soziale Ordnung seinem Leben, seiner Bedrückung Abhilfe geschaffen werden konnte. Ähnlich war es auch im Mittelalter. Der moderne Proletarier kommt aber immer mehr mit der Forderung, daß nicht dieses oder jenes einzelne zu bekämpfen sei, sondern daß nur eine gründliche Reform, vielleicht auch Umwälzung der Verhältnisse überhaupt, seine Lage ändern könne. Und eine gewaltige Ausbreitung, eine viel größere Ausbreitung als diejenigen glauben, die sich die Augen verschließen, hat diese Überzeugung innerhalb der arbeitenden Menschheit gefunden. Es ist manchmal für den, der die Dinge durchschaut, ganz staunenswert, daß es immer doch noch Menschen gibt, die nicht den Ernst haben, auf alle diese Dinge einzugehen.

Nun könnte es recht sonderbar erscheinen, wenn gegenüber einer so praktischen Anforderung des Tages, gegenüber einer solchen Lebensfrage jemand kommt, um sie vom Standpunkte der Geisteswissenschaft zu beleuchten. Haben doch die meisten Menschen von ihr die Vorstellung, daß sie etwas Unpraktisches, das unpraktischste Zeug der Welt sei, daß sie den Köpfen einiger Träumer entsprungen sei und sich mit allerlei Dingen befaßt, die nichts zu tun haben mit dem Wirklichen. Es hören wohl die Leute, daß es eine Weltenströmung gibt, die sich die geisteswissenschaftliche nennt, die von dem lehrt, was in der Welt als Übersinnliches vorhanden ist und den verschiedenen Wesen, die um uns herum sind, was dem Menschen selbst als seir, Übersinnliches zugrunde liegt. Man hört wohl auch, daß diese Geistesforschung von vielen Tatsachen spricht, so zum Beispiel von den wiederholten Erdenleben und von dem großen Gesetz über die geistige Verursachung unserer Handlungen und Schicksale. Man hört davon, daß sie hinaufführt in allerlei höhere Welten und so weiter. Man kann nun leicht glauben: Was kann jemand, der sich mit solchen Dingen befaßt, Praktisches und Wissenswertes über eine Lebensfrage wie die soziale ausmachen!

Aber mit der Lebenspraxis hat es eine eigene Bewandtnis. Wir wollen heute einmal über dieses Thema sprechen, gerade um zu zeigen, wie Geisteswissenschaft nur dann eine wirkliche Bedeutung hat, wenn sie fähig ist, in die praktischen Lebensfragen einzugreifen. Wir fragen uns dabei: Worauf haben wir unser Augenmerk zu richten, wenn von der sozialen Frage die Rede ist? - Nicht wahr, daß die soziale Frage vorhanden ist, davon kann uns der Augenschein überzeugen, und dieser Augenschein überzeugt den, der sich mit dem Leben befaßt, aufs eindringlichste. Wir könnten hinweisen, daß mit der Blüte unserer Industrie - gerade in England - soziale Verhältnisse furchtbarster Art eingetreten sind. Es war für diejenigen, welche die Industrie fruchtbar machen wollten für das, was sie ihre Welt nannten, einzig und allein die Frage: Wie ist am billigsten die Arbeitskraft herzustellen? - Und da sehen wir denn jene Ausschreitungen, die oft geschildert worden sind, wie die Industrie neben starkem Licht auch starken Schatten erzeugt und wie sich die Segnungen unserer Maschinen, Eisenbahn und Dampfschiffe durch das 19. Jahrhundert entwickeln. Wir sehen aber auch, wie im Gefolge davon der Mensch arbeiten muß, zuweilen eine Arbeitszeit hindurch, die zweifellos alles Menschenmögliche übersteigt. Wir wissen, daß nicht bloß Erwachsene im Laufe des 19. Jahrhunderts in den Industrien Englands gehalten worden sind in zwölf-, sechzehn-, achtzehn- und zwanzigstündiger Arbeitszeit, ja zuweilen noch länger. Die Menschen, die nicht unmittelbar berührt werden, wissen nur nichts von diesen Dingen. Wir wissen auch, daß Kinder im zartesten Alter in einer schier unglaublichen Weise in Fabriken beschäftigt worden sind. Wir wissen, wie die Menschen blind geworden sind gegen das Unmögliche einer solchen Sache.

Wir brauchen nur auf eine Tatsache hinzudeuten, auf die Tatsache, daß einmal in einem Parlament die Rede davon war, ob es nicht unerhört sei, daß Kinder achtzehn bis neunzehn Stunden, wie es der Fall war, in der Industrie beschäftigt werden und ein Arzt sich dagegen wandte damit, daß das unter Umständen eben nicht anders möglich sei! Und als man den Herrn fragte, ob er denn eine Arbeitszeit von vierundzwanzig Stunden nicht für etwas Unmögliches ansehen würde, da sagte der Mann: Ich habe mich durch tiefe Gründe überzeugt, daß die Gemeinplätze, die in solchen Dingen geredet werden, durchaus nicht immer ernst genommen werden dürfen, und ich bin nicht in der Lage, irgendeine Arbeitszeit anzugeben unterhalb vierundzwanzig Stunden, die irgendwie als der Gesundheit unzuträglich bezeichnet werden könnte. - Eine solche Sache charakterisiert viel mehr als die Tatsache selbst die Lage, in welche die Menschheit gebracht worden ist durch das, was für sie zu gleicher Zeit ein solcher Segen ist. Und wer hätte denn im Leben nicht selbst erfahren, wenn er die Augen aufzumachen versteht, wie zuweilen tatsächlich Menschen im zartesten Kindesalter, wenn sie zur Schule geschickt werden, nichts lernen können, wie alles von den Bestrebungen und Idealen, sie zu Menschen zu machen, nichts fruchtet, weil sie infolge der sozialen Not nicht ausgerüstet sind mit jenen Kräften, die einigermaßen hinreichend wirken zu einem menschenwürdigen Dasein.

Es ist nicht möglich, die soziale Not zu schildern, in die vielfach die Menschheit gebracht worden ist; das würde eine zu große Zahl von Bildern aufzurollen nötig machen. Wir brauchen aber nur das, was gesagt ist, zu benutzen für anderes, nur das, was Sie gesehen haben, als Empfindungsgehalt in uns aufsteigen zu lassen, und wir werden nicht mehr leugnen können, daß eines sicher ist: Die großen Fortschritte des menschlichen Geistes, jene gewaltigen Fortschritte, welche die Maschinen und so weiter konstruiert haben, welche unsere ganze Erde umsponnen haben mit einem Verkehrsnetz sondergleichen, diese Entwickelung des menschlichen Geistes hat nicht, gar nicht Schritt gehalten mit einem andern Nachdenken, mit dem Nachdenken darüber, welches die bestmöglichste Art des menschlichen Zusammenlebens ist. Niemand würde heute glauben, daß eine Maschine sich von selber konstruiere, daß keine Verstandeskraft, keine Geisteskraft angewendet werden muß, um die Maschine ins Leben zu rufen und ein Verkehrssystem zu schaffen. Aber wie viele sind heute, die, wenn sie es auch nicht zugeben, in ihrem innersten Gefühle der Anschauung, daß das menschliche Zusammenleben sich ganz von selber machen müßte, daß nicht Geisteskraft dazu gehört, um in dieses Getriebe ebenso einzugreifen, wie man in das Getriebe einer Fabrik eingreift.

Zwar braucht man nicht so weit zu gehen, wie ein großer Naturforscher des 19. Jahrhunderts, der da gesagt hat: Oh, die Menschheit hat im Wissen und Verstehen der Welt Fortschritte ungeheuerlichster Art gemacht, aber in bezug auf Moral ist die Menschheit nicht einen Schritt weitergekommen! - Man braucht nicht so weit zu gehen, aber das, was eben gesagt worden ist, daß die wenigsten Menschen, die nicht unmittelbar vom sozialen Elend berührt werden, heute die Notwendigkeit empfinden, sich mit der sozialen Frage zu befassen, ist eine nicht wegzuleugnende Tatsache.

Wenn wir aber zu denjenigen hinschauen, die sich entweder mit der sozialen Frage befassen oder sich mit ihr befassen sollten, wie sieht es denn da aus? Da gibt es zum Beispiel ein vor nicht langer Zeit erschienenes Buch vom Regierungsrat Kolb: « Als Arbeiter in Amerika ». Der Mann hat mit ungeheurer Selbstlosigkeit, mit einer wirklichen Hingabe eine Zeitlang sich herausgeschält aus seinem Bürokratenamt und ist nach Amerika gegangen. Um das soziale Leben kennenzulernen, hat er in einer Fahrradfabrik schwer gearbeitet. Ich muß vorausschicken - damit ich nicht etwa der Gefahr ausgesetzt werden könnte, daß man mir in die Schuhe schiebt, ich werde ungerecht in der Beurteilung -, daß diese Tat des Mannes eine außerordentlich anerkennenswerte ist, daß sie nicht hoch genug geschätzt werden kann. Aber schauen wir uns jetzt eine einzige Äußerung dieses Buches an. Da steht ein Satz in diesem Buche, charakteristisch genug, der heißt: « Wie oft hatte ich früher, wenn ich einen gesunden Mann betteln sah, mit moralischer Entrüstung gefragt: warum arbeitet der Lump nicht? - jetzt wußte ich's.» So sagt der betreffende Regierungsrat. « In der Theorie », fügt er hinzu, « sieht sich's eben anders an als in der Praxis, und selbst mit den unerfreulichsten Kategorien der Nationalökonomie hantiert sich's am Studiertisch noch ganz erträglich.»

Nun, man möchte sagen, eine ganze Welt von Menschenempfindungen und Menschenwirken spricht aus solchem Satze. Wir haben einen Mann vor uns, der es zu einer solchen Stellung gebracht hat, die man äußerlich als Regierungsrat bezeichnet. Der verrät, daß er das Leben so wenig gekannt hat, daß er jeden, der nicht arbeitete, als Lump bezeichnete, daß er sich erst hat aus seinem Amt herausschälen müssen und weit weg nach Amerika gehen, um das Leben, für das er Rat erteilen sollte, auf das sich seine Handlungen bezogen, kennenzulernen. Man kann also studieren, es zu einem hervorragenden Platz bringen und kann solches nötig haben! Man hat nicht Augen, um nach links und rechts zu sehen, man weiß nichts vom Leben. Das ist möglich!

Wenn wir solches gewahr werden, dann dürfen wir die Frage aufwerfen, ob es denn nicht sein könnte, daß es in gewissen Dingen aus dem Grunde so arg steht, weil mancher, auf den es ankommt, es verschmäht, mit dem Leben bekanntzuwerden. Es wird viel geredet heute von allerlei Verbesserungen, Vorschlägen und Dingen, die eingerichtet werden sollen. Sie müssen von Menschen eingerichtet werden. Sollte nicht ein wenig Unterschied sein zwischen Dingen, die von Menschen eingerichtet sind, die vom Leben etwas verstehen, und von Menschen, die in einer solch grandiosen Weise zugeben, daß sie nichts verstehen? Was nützt alles Reden, wenn man nicht einsieht, daß es darauf ankommt, wer darüber redet und ob der, der darüber redet, etwas weiß. Wieviel könnte dann von dem, was durch das Leben schwirrt, vielleicht ganz leeres Geschwätz sein und wieviel könnte von dem, was leeres Geschwätz ist, gar in Wirklichkeit umgesetzt werden und Leben gewinnen? - Die Frage ist wohl berechtigt. Derjenigen aber, welche heute nachdenken über die soziale Frage, gibt es viele; viel zu viele, wenn wir die Frage ernster ins Auge fassen, wenn wir ins Auge fassen, was notwendig ist, um etwas von dieser Frage wirklich Nützliches zu verstehen. Es gibt heute eine ganze Reihe von Leuten, die sagen: In dem Augenblick, wo die Verhältnisse besser werden, wo die Verhältnisse geändert werden, da wird auch das Leben der Menschen und ihre Lage besser sein. - Wir wissen, daß vor allen Dingen die vielleicht verbreitetste, umfassendste soziale Theorie in der Gegenwart, der Sozialismus selber, sich auch auf diesen Standpunkt stellt. Wir wissen, daß er immer betont: Ach, kommt uns nicht mit allerlei Vorschlägen, wie die Menschen besser werden sollen, wie die Menschen sich verhalten sollen! Kommt uns nicht mit allerlei sittlichen Forderungen! Worauf es ankommt, ist lediglich - das betonen sie - die Zustände zu verbessern.

Symptomatisch kann einem das entgegentreten an einem solchen Weltverbesserer, der an verschiedenen Orten Deutschlands mit seinen sozialen Theorien auftritt, der immer erzählt: Ja, da behaupten die Leute, daß die Menschen erst besser werden müßten, wenn die Zustände besser werden sollen. Aber, sagt er, alles hängt davon ab, daß die Menschheit in die richtigen Zustände hineinversetzt werde. - Und er erzählt auch, wie man da und dort einmal die Wirtshäuser eingeschränkt hat und wie dann tatsächlich in einem solchen Orte weniger Betrunkene waren, und es dadurch einer Anzahl von Leuten besser gegangen sei. Er predigt dann dem Arbeiter, daß Menschenliebe, gegenseitige Brüderlichkeit leere Phrase sei. Alles käme darauf an, solche Arbeits- und Lebensbedingungen herbeizuführen, daß ein jeglicher seine auskömmliche Existenz habe, dann würde auch der moralische Zustand über die Erde schon von selber kommen.

Nun, Sie wissen ja, daß der Sozialismus in der Ausgestaltung einer solchen Anschauung weitgehend ist. Das ist nichts anderes als eine Folge des Materialismus in unserer Zeit, des Materialismus, der nicht, wie die Geisteswissenschaft, in das Innere des Menschen zu blicken vermag und zu erkennen vermag, daß alles, was an Zuständen, insofern es für die soziale Ordnung in Betracht kommt, von Menschen geschaffen ist, die Folge ist von Menschengedanken und Menschenempfindungen, sondern der glaubt, daß der Mensch ein Produkt der äußeren Verhältnisse sei. Dieser Glaube ist im höchsten Grade lähmend für die gedeihliche Betrachtung des sozialen Lebens. Er ist lähmend, und wir wollen nicht irgendeinen theoretischen Beweis heute dafür anführen, sondern wir wollen einen geschichtlichen Beleg beibringen.

Wenn zu einem sozialen Reformer irgend jemand geeignet war, so war es um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert Robert Owen. Er hatte zweierlei Tugenden, die ihn befähigten, von seinem Gesichtspunkte aus in das soziale Leben einzugreifen: einen offenen Blick für den industriellen Fortschritt und für die Schäden, für Menschenwohl und Menschenglück, die dieser Fortschritt bringt. Einen offenen Blick und ein offenes Herz hatte er für menschliches Leid, und auf der andern Seite hatte er einen guten Willen und Initiative, um wenigstens einer Anzahl von Menschen ein würdiges Dasein zu verschaffen. Er lebte zunächst in einer materialistischen Zeit und war deshalb zunächst, wie so viele, abhängig von der Theorie, daß man nur entsprechende Zustände herbeizuführen brauchte, um darinnen eine gründlich moralische Menschheit zu entwickeln. Und so begründete er eine kleine Kolonie in Amerika, die in jeder Beziehung musterhaft genannt werden dürfte, wenn die Voraussetzung richtig gewesen wäre. Er hatte den Leuten ein menschenwürdiges Dasein durch äußere Einrichtungen garantiert. Er hatte unter arbeitsamen und strebsamen Leuten Verkommene, die durch das Beispiel der ersteren angeregt werden sollten, ordentliche Menschen zu werden. Dadurch gestaltete sich eine Musterwirtschaft heraus, die wiederum ihrem Urheber den Gedanken eingab, dasselbe in größerem Maßstabe zu versuchen. Es kam dann die zweite Kolonie, die ebenso praktisch und menschenfreundlich gestaltet war. Aber er, der nicht nur die Theorie aufgestellt hatte, daß die Änderung der Zustände die Verbesserung des Menschenloses herbeiführen müsse, er mußte die Enttäuschung erleben, die wir durch seine eigenen Worte charakterisieren. Dadurch, daß die Menschen nicht reif waren für die Zustände, schrieb er nieder: Was hilft alle Verbesserung der Zustände, wenn nicht vorher die allgemeine Sitte, das allgemeine Wissen gehoben wird? Zuerst kommt es darauf an, dem Menschen in seinem Inneren Aufklärung zu geben, vor allem über seine Seelenkräfte; dann ist erst daran zu denken, daß die soziale Frage einigermaßen würdig ihrer Lösung entgegengehen wird.

So urteilt ein Praktiker, kein Theoretiker, und es ist in gewisser Beziehung charakteristisch dafür, wie wenig die Menschheit aus Tatsachen lernt, daß trotz dieser Enttäuschung immer wieder dieselben Theorien behauptet werden. Aber wer ein klein wenig tiefer in die Seelen der Menschen unserer Zeit zu sehen vermag, der wird wissen, daß eine solche Einzelerscheinung zusammenhängt mit der Entwickelung der Menschenseelen in der Gegenwart überhaupt. Ob es der eine oder andere zugesteht, es ist die Grundüberzeugung, daß heute alles gemacht werden kann, wenn man die äußeren Verhältnisse ändert, und bei Schäden, die die Menschheit bedrohen, schnell durch ein Gesetz Abhilfe schafft. Das sind so die Grundüberzeugungen in unserer Zeit. Und wenn wir zum Beispiel immer wieder sehen, daß Gesetze damit motiviert werden, daß man sagt: Die unerfahrene Menschheit darf nicht ausgeliefert werden diesen oder jenen Leuten -, dann merkt man gar nicht, daß man eine ganz andere Aufgabe hätte, als Gesetze zu machen, daß man die unerfahrene Menschheit belehren sollte, so daß sie selbstbestimmend sein könnte für ihre Taten.

Man lenkt nicht leicht den Blick von den Zuständen auf die Menschen. Dies ist aber die Aufgabe der Geisteswissenschaft. Sie lenkt ganz ab von den Zuständen und ganz und gar hin auf die Menschen. Fragen wir uns in bezug auf alle Dinge, die als Zustände und Verhältnisse um uns herum sind: Woher kommen diese Verhältnisse und diese Zustände? - Insofern sie nicht von der Natur verhängt sind, sind sie Ergebnisse des menschlichen Empfindens und Denkens. Das, was heute Zustände sind, waren Gedanken und Willensimpulse von Menschen, die vorher gelebt haben. Und die Verhältnisse sind so, weil Menschen sie so gemacht haben. Wollen wir bessere Zustände machen, dann müssen wir vor allen Dingen mehr lernen, müssen bessere Gedanken und Empfindungen und Willensimpulse entwickeln. Wenn wir aber Umschau halten im Umkreise der Sozialtheoretiker, selbst der radikalsten, meinetwegen der Sozialdemokratie, dann sind diese Theorien zumeist gar nicht irgendwie hinausgehend über dasjenige, was die Menschen schon immer gedacht haben. Sie sind denselben Gedanken und Impulsen entsprungen, denen unsere Verhältnisse entsprungen sind und die zu unserer Lage geführt haben. Wir müssen imstande sein, Menschen zu haben, die das Leben kennen und wissen, um was es sich bei den Kräften, die hinter dem Leben stehen, handelt. Was hat Robert Owen gefehlt? Er mußte es selbst zugeben: Menschenkenntnis! - Man lernt niemals den Menschen kennen, wenn man eine Weltanschauung, die nur auf das Äußere sich richtet, aufstellt. Sobald der materialistisch getrübte Blick, der sich nur auf den äußeren Menschen richtet, sobald der Mensch nicht weiß, was hinter dieser physischen Körperlichkeit sich verbirgt, und er dadurch nicht die Fähigkeit erlangt, sozusagen hinter die Kulissen zu schauen, ist er gar nicht imstande, wirklich nicht imstande, irgend etwas über die Kräfte zu verstehen, die das Leben lenken und leiten. Das ist aber gerade die Aufgabe der Geist-Erkenntnis. Zugegeben mag werden, daß sie ihre Aufgabe heute nicht überall im richtigen Maße erfüllt; zugegeben muß werden, daß innerhalb der sie suchenden Kreise mit den höchsten Fragen des Daseins vielfach gespielt wird. Darauf kommt es nicht an, sondern darauf, was die Geist-Erforschung uns sein kann. Und sie kann nicht nur etwas sein, was uns lehrt, was uns Dogmen gibt, sondern sie kann sein eine mächtige Erziehung unserer innersten Seelenkräfte. Das ist das Beste, was man aus der Geist-Erkenntnis gewinnen kann, wenn wir die geisteswissenschaftliche Weltanschauung von dem Gesichtspunkt aus betrachten, zu was sie die Menschen machen kann. Dann stellt sich das Bild so dar.

Wir haben hier sprechen können von Anschauungen, welche die Geistesforschung über die mannigfachsten Gebiete des Lebens hat. Wir haben von ihren Lehren über dieses und jenes sprechen können. Davon soll aber nicht die Rede sein. Derjenige, der sich bekanntmacht mit der Geisteswissenschaft, wird aber eines merken: in bezug auf einen wichtigen Punkt unterscheidet sie sich von allem, was sonst heute Theorie ist. Und das ist wichtig. Heute wird der Mensch nämlich in den meisten Fällen recht bald fertig, wenn er sich eine Weltanschauung bilden soll, und am liebsten ist es ihm, wenn er möglichst bald ein abgerundetes Weltenbild haben kann. Für Kenner der Verhältnisse ist es klar, daß manch einer Materialist oft nur aus dem einzigen Grunde ist, weil er mit seinen Gedanken gar nicht weit geht, weil er kurz denkt. Und der Materialismus macht es seinen Anhängern leicht, sehr leicht. Man kann den Aufbau der Welt aus rein materiellen Tatsachen leicht überschauen und einsehen, besonders wenn noch mit Lichtbildern illustriert wird, wie sich der Mensch entwickelt hat. Man braucht nur hinzustarren und kann aus den im gewöhnlichen Leben gewohnten Vorstellungen den ganzen Gang der Weltenentwicklung verfolgen. Es ist leicht, alldem zu folgen, was die Materialisten sagen über die Weltenrätsel, weil die Gedanken sich nicht verstricken, weil keine besonderen Anforderungen gestellt werden.

So leicht ist bei der Geisteswissenschaft die Sache nicht. Sie macht es den Menschen nicht leicht, denn sie geht von der wirklichen und wahren Voraussetzung aus, daß die Welt in ihren Geheimnissen tief ist und daß man sich anstrengen muß, tief hineinschürfen muß in den Grund der Dinge, wenn man die Welt verstehen will. Und so ist dasjenige, was die Geistesforschung über Menschenwerden und -wesen, über Weltenwerden und -wesen zu sagen hat, etwas, was die Gedanken in die mannigfaltigsten Verschlingungen bringt, was manchmal in Kleinigkeiten zu vertiefen zwingt, manchmal zu den größten Ausblicken den Menschen führt. Aber es hat dies eine gewisse Folge, und über diese Folge darf man einmal offen sprechen. Es schult das Denken und es bereitet vor, da wo dieses komplizierte Menschenleben uns im einzelnen Fall entgegentritt, dieses Leben auch da zu verstehen. Manch einer wird sagen: Die Welten, die uns die Geisteswissenschaft beschreibt, haben mich ganz schwindlig gemacht. - Ja, ist das denn ein schlechtes Zeichen für die Geisteswissenschaft? Es wäre besser, wenn diese Betrachtungsweise den Menschen nicht schwindlig machte, sondern ihn kräftigte und stärkte, dann wäre er bereit, das Leben mit starken Seelenkräften aufzufassen. So sind aber die praktischen Vorstellungen über Welt und Leben: Wenn ein Mensch über die Weltenrätsel in kurzen Gedanken denkt, dann denkt er auch über die soziale Ordnung in kurzen Gedanken. Und so sehen wir, daß das, was heute von den berühmten Leuten über soziale Fragen gedacht wird, ein recht genaues Bild ist von dem, was uns als materialistisches Weltenbild geboten wird, unvermögend, in die Tiefen des Lebens einzudringen. Dabei hat ein jeder das unbestimmte Gefühl, daß das, was ihm Schwierigkeiten macht, irgendein phantastisches, traumhaftes Zeug ist, und daß die Geist-Erkenntnis etwas Phantastisches, Traumhaftes, mindestens recht idealistisches Zeug sein müßte, jedenfalls ungeeignet für wirklich echt Praktische Lebenszwecke. Zwar hat Fichte vor mehr als hundert Jahren vor seinen Jenenser Studenten gesagt: Jene praktischen Leute, denen umfassende Ideen immer unpraktisch erscheinen, weil Ideen und Ideale im Leben nicht immer anwendbar sind, beweisen nur, daß im Schöpfungsplane nicht auf sie gerechnet worden ist. Möge eine gütige Vorsehung ihnen Sonnenschein, Nahrungsmittel und kluge Gedanken geben. - Fichte hat auch über das Unvermögen mancher Leute, die Geistigkeit des Ich vorzustellen, gesprochen: « Die meisten Menschen würden leichter dazu zu bringen sein, sich für ein Stück Lava im Monde als für ein Ich zu halten.» Aber es ist Lebensnotwendigkeit, sich das Ich vorzustellen.

Wenn wir das Leben und die soziale Frage von diesem Gesichtspunkt aus betrachten, dann müssen wir sagen, wir betrachten die Geisteswissenschaft als die große Schule des Lebens, die es unmöglich macht, daß man durch das Leben geht, eine gewisse Stellung erhält, sogar Rat, Berater im Leben wird, und nachher weit, weit fortgehen muß, um einmal auf Urlaub das Leben kennenzulernen, um nicht mehr davon überzeugt zu sein, daß jeder, der nicht arbeitet, ein Lump ist. So etwas wird durch die Geisteswissenschaft unmöglich.

Daher reden wir nicht bloß von einem spirituellen Standpunkt aus, von irgendwelchen Anschauungen im Verhältnis der Geisteswissenschaft zum Sozialismus, sondern wir reden von etwas anderem. Wir betrachten die Geisteswissenschaft als eine reale Sache, nicht nur als eine Summe von Dogmen, sondern als etwas, was Erkenntnis, Weisheit gibt, und zwar solche, die in jedem Augenblick einfließt in das unmittelbare Leben und uns die Augen öffnet, so daß wir diesem Leben gewachsen sind. So ist die Geist-Erkenntnis die allgemeine Grundlage für jegliches Urteil, ob wir auf dem Gebiet des sozialen Lebens oder dem der Pädagogik urteilen. Unser Urteil wird gesünder, weil es aus der wahren Menschennatur entspringt, wenn wir von geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkten ausgehen. Wir sagen, erst sei man durchdrungen von dem, was Geistesforschung zu geben vermag, dann kommt man selber zu einem richtigen Urteil. Es könnte jemand fragen: Wie denkt ein Anhänger der Geisteswissenschaft, in welcher Weise der oder jener Parlamentarier über eine Frage urteilen solle, wenn er seiner Ansicht nach falsch geurteilt hat? - Dies ist vom spirituellen Gesichtspunkte nicht richtig gefragt, sondern es muß gesagt werden: Es handelt sich gar nicht darum, zu sagen, wie der oder jener denken soll, sondern man ist überzeugt, daß er, wenn er durchdrungen ist von den Grundwahrheiten, ein klares Urteil haben wird auf jedem Posten. Wir schreiben ihm sein Urteil nicht vor, sondern er wird das richtige Urteil finden. In dieser Beziehung ist Geisteswissenschaft das freiheitlichste Lebensprinzip, das es geben kann. Sie dogmatisiert nicht, sondern sie stellt den Menschen vor die Möglichkeit, überall immer das eigene, gesunde freie Urteil zu haben.

Verhältnisse - davon sind wir ausgegangen - werden vielfach als dasjenige angesehen, was den Menschen anders machen könnte, und man denkt abstrakt nach, wie Verhältnisse geändert werden können. Die Geisteswissenschaft hat es einzig und allein zu tun mit der realen Menschenseele, mit Verhältnissen von Mensch zu Mensch. Nun würde es heute ganz unmöglich sein, auf einzelne konkrete Dinge in bezug auf die soziale Frage einzugehen. Es darf aber doch auf dies oder jenes hingewiesen werden, wollen wir die Bausteine finden, die uns den Weg weisen, da wo wir im Leben stehen, in richtiger Art einzugreifen. Denn an jedem von uns liegt es, einzugreifen. Wollen wir die Bausteine finden, dann fragen wir uns: Was ist denn eigentlich die Grundtatsache, gleichsam das Grundphänomen, von dem alles Elend, alles soziale Leid überhaupt in der Welt abhängen kann? - Diese Grundtatsache kann uns die Geist-Erkenntnis zeigen, indem sie uns vor eine, heute von der größten Zahl der Menschen gar nicht verstandene und gar nicht anerkannte Tatsache stellt. Diese Tatsache hängt zusammen mit einer Grunderscheinung aller Entwickelung. Man möchte sagen, trocken ausgesprochen, sie zeigt uns durch eine tiefere Lebensbetrachtung, daß Not, Leid und Elend nicht allein - und am allerwenigsten, wenn man auf den Grund geht - abhängt von äußeren Verhältnissen, sondern von einer gewissen Seelenverfassung und im Zusammenhang damit mit deren äußeren Wirkungen.

Der Praktiker, der sich viel gescheiter dünkt, wird das lächerlich finden. Aber es ist das Praktischste im Leben, was man nur betonen kann. Es ist der Satz, von dem Sie sich mehr und mehr überzeugen werden, daß Not, Elend und Leid nichts anderes sind als eine Folge des Egoismus. Wie ein Naturgesetz haben wir diesen Satz aufzufassen, nicht so, daß etwa bei einem einzelnen Menschen, wenn er egoistisch ist, immer Not und Leid eintreten müssen, sondern daß das Leid - vielleicht an einem ganz andern Orte - doch mit diesem Egoismus zusammenhängt. Wie Ursache und Wirkung, hängt der Egoismus mit Not und Leid zusammen. Der Egoismus führt im Menschenleben, in der sozialen Menschenordnung, zum Kampf ums Dasein. Der Kampf ums Dasein ist der eigentliche Ausgangspunkt für Not und Leid, sofern sie sozial sind. Nun gibt es auf Grund unserer heutigen Denkweise eine Überzeugung, gegenüber welcher das, was jetzt behauptet ist, geradezu absurd erscheint. Warum? Weil man heute überzeugt ist, daß ein großer Teil, der weitaus größte Teil des menschlichen Lebens, auf Egoismus gebaut sein muß. Zwar mit Worten und Theorien will man es nicht zugeben, aber in der Praxis wird man es bald zugeben. Man gibt es in folgender Weise zu. Man sagt: Es ist ganz natürlich, daß der Mensch für seine Arbeit entlohnt wird, daß der Mensch den Ertrag seiner Arbeit persönlich erhält - und doch ist das nichts anderes als die Umsetzung des Egoismus in das nationalökonomische Leben. Wir leben unter Egoismus sobald wir dem Prinzip leben: Wir müßten persönlich entlohnt werden, was ich arbeite, muß mir bezahlt werden. - Die Wahrheit liegt von diesem Gedanken so weit ab, daß sie ganz unsinnig erscheint. Wer sich überzeugen will von der Wahrheit über den Egoismus, der müßte einmal intimer eingehen auf allerlei Weltengesetze. Er müßte sich einmal nachdenklich der Frage hingeben, ob denn die Arbeit, die als solche persönlich entlohnt wird, wirklich das Lebenerhaltende ist, ob es auf diese Arbeit ankommt? - Es ist sonderbar, diese Frage aufzuwerfen. Aber nicht eher, als man darüber nachdenken wird, wird man über die soziale Frage aufklären können.

Denken Sie sich - es ist dies ein paradoxer Vergleich - einen Menschen auf eine Insel versetzt. Der sollte dort allein sich versorgen. Sie werden sagen: Er muß arbeiten! - Er muß aber nicht bloß arbeiten, das ist nicht das, worauf es ankommt, sondern es muß zu seiner Arbeit etwas hinzutreten. Und wenn die Arbeit bloß Arbeit ist, dann kann sie unter Umständen für sein Leben absolut nutzlos sein. Denken Sie einmal, der Mensch auf der Insel täte gar nichts, als vierzehn Tage lang Steine werfen. Das wäre eine anstrengende Arbeit, und nach gewöhnlichen menschlichen Begriffen könnte er damit recht viel Lohn verdienen. Dennoch steht diese Arbeit mit dem Leben nicht im geringsten Zusammenhang. Arbeit ist nur dann lebenfördernd und hat Wert, wenn etwas anderes hinzukommt. Wenn diese Arbeit auf das Bearbeiten der Erde geht und die Erde das Produkt gibt, dann hat Arbeit mit dem Leben etwas zu tun. Wir sehen sogar bei niedrigen Wesen, daß Arbeit getrennt ist von der Produktion. So sehen wir eine Möglichkeit, zu dem ungeheuer wichtigen Satze zu kommen, daß Arbeit als solche gar keine Bedeutung hat für das Leben, sondern nur diejenige, die weise geleitet ist. Durch von Menschen hineingelegte Weisheit ist dasjenige hervorzubringen und zu schaffen, was dem Menschen dient. Im Kleinsten nicht verstanden, sündigt das heutige soziale Denken gegen diesen Satz. Und es kommt nicht darauf an, daß irgend jemand schöne abstrakte Theorien ausdenkt, sondern der wirkliche Fortschritt hängt davon ab, daß jeder einzelne Mensch im sozialen Sinne denken lernt. Das heutige Denken ist vielfach unsozial. Unsozial ist es zum Beispiel, wenn jemand am Sonntagnachmittag draußen ist und sagt, angeregt durch Gelegenheit: Ich werde zwanzig Ansichtskarten schreiben. - Richtig ist es und sozial gedacht, zu wissen und zu empfinden, daß diese zwanzig Karten so und so viele Briefträger veranlassen, so und so viele Treppen zu steigen. Sozial gedacht ist es, zu wissen, daß jede Handlung, die man tut, im Leben eine Wirkung hat. Nun kommt aber jemand und sagt, er denke sozial insofern, als ihm klar sei, daß durch das Kartenschreiben mehr Briefträger angestellt werden müssen und Brot bekommen. - Das ist ebenso, wie wenn man bei einer Arbeitslosigkeit aussinnt, was man bauen will, um Arbeit zu schaffen. Aber es kommt nicht darauf an, Arbeit zu schaffen, sondern darauf, daß die Arbeit der Menschen einzig und allein verwendet wird, wertvolles Gut zu schaffen.

Wenn man dies bis in die letzten Konsequenzen durchgeht, dann kommt es einem nicht mehr so absonderlich vor, wenn der uralte Satz der Geisteswissenschaft ausgesprochen wird, der heute so unverständlich wie möglich klingt: In einem sozialen Zusammenleben muß der Antrieb zur Arbeit niemals in der eigenen Persönlichkeit des Menschen liegen, sondern einzig und allein in der Hingabe für das Ganze. - Das wird auch öfter betont, aber niemals so verstanden, daß man sich klar ist, daß Elend und Not davon kommen, daß der einzelne das, was er erarbeitet, für sich entlohnt haben will. Wahr ist es aber, daß wirklicher sozialer Fortschritt nur möglich ist, wenn ich dasjenige, was ich erarbeite, im Dienste der Gesamtheit tue, und wenn die Gesamtheit mir selbst dasjenige gibt, was ich nötig habe, wenn, mit andern Worten, das, was ich arbeite, nicht für mich selber dient. Von der Anerkennung dieses Satzes, daß einer das Erträgnis seiner Arbeit nicht in Form einer persönlichen Entlohnung haben will, hängt allein der soziale Fortschritt ab. Zu ganz andern Zielen führt jemand eine Unternehmung, der da weiß, daß er nichts für sich haben soll von dem, was er erarbeitet, sondern daß er der sozialen Gemeinschaft Arbeit schuldet, und daß, umgekehrt, er nichts für sich beanspruchen soll, sondern seine Existenz einzig auf das beschränkt, was ihm die soziale Gemeinschaft schenkt. So absurd dies heute für viele ist, so wahr ist es. Unser Leben steht heute unter dem entgegengesetzten Zeichen: in dem Zeichen, daß der Mensch immer mehr beanspruchen will, wie man sagt, den vollen Ertrag seiner Arbeit. Solange das Denken sich in dieser Richtung bewegen wird, so lange wird man in immer üblere Lagen hineinkommen.

Dieses unsoziale Denken verleitet dazu, alle Begriffe zu verschieben. Denken Sie einmal, wie innerhalb des weitverbreiteten Sozialismus von Ausbeutern und Ausgebeuteten die Rede ist. Wer ist vor dem klaren, Denken Ausbeuter und wer ist der Ausgebeutete? Sehen wir den Menschen an, der für einen Hungerlohn ein Kleidungsstück arbeitet. Wer ist sein Ausbeuter? Es könnte von jenem die Rede sein, der das Kleidungsstück kauft und dafür einen ganz geringen Preis bezahlt. Kauft etwa nur der Reiche dieses Kleidungsstück? Kauft nicht derselbe Arbeiter, der über Ausbeutung klagt, dieses selbe billige Kleidungsstück? Und verlangt er nicht heute, innerhalb der sozialen Ordnung, daß es so billig wie möglich sein soll? Sehen Sie, wie die Handarbeiterin, die mit blutigen Fingern die Woche arbeitet, am Sonntag das Kleid für einen billigen Preis deshalb tragen kann, weil die Arbeitskraft eines andern Menschen ausgebeutet wird! Nichts hat das vor dem klaren Denken mit Reichtum oder Armut zu tun, sondern einzig und allein mit dem, was in unserer Welt unsere Vorstellung von Mensch zum Menschen ist. Nun könnte leicht jemand sagen: Wenn du forderst, daß des Menschen Existenz unabhängig sein soll von seiner Leistung, dann ist das Ideal am schönsten erfüllt beim Beamten. Der heutige Beamte ist unabhängig. Das Maß seiner Existenz ist nicht abhängig von dem Produkte, das er hervorbringt, sondern von dem, was man für seine Existenz für notwendig hält. - Gewiß, nur hat ein solcher Einwand wirklich seinen sehr großen Fehler. Es kommt darauf an, daß jeder einzelne in voller Freiheit imstande ist, dieses Prinzip zu respektieren und in das Leben umzusetzen. Nicht kommt es darauf an, daß dieses Prinzip durch allgemeine Gewalt durchgeführt wird. Es muß sich dieses Prinzip, das persönlich Erworbene und zu Erwerbende unabhängig zu machen von dem, was man für die Gesamtheit arbeitet, bis ins einzelne Menschenleben durchsetzen. Und wie setzt es sich durch?

Es gibt nur eines, wie es sich durchsetzen kann, eines, was dem sogenannten Praktiker recht unpraktisch erscheinen wird. Es muß Gründe geben, warum der Mensch doch arbeitet, und zwar recht fleißig arbeitet und hingebungsvoll, wenn nicht mehr der Eigennutz der Antrieb zu seiner Arbeit ist. Derjenige schafft in Wahrheit nichts Wirkliches in bezug auf das soziale Leben, der sich irgendeine Leistung patentieren läßt und damit zeigt, daß er den Eigennutz für das Bedeutsame im Leben hält. Jener aber schafft wirklich für das Leben, der durch seine Kräfte zu richtigen Leistungen lediglich durch Liebe geführt wird, durch Liebe zur ganzen Menschheit, der er gern und willig seine Arbeit gibt. So muß der Impuls zur Arbeit in etwas ganz anderem liegen als in der Entlohnung. Und das ist die Lösung der sozialen Frage: Trennung der Entlohnung von der Arbeit. Denn das ist eine Weltanschauung, die auf den Geist geht, um im Menschen solche Impulse zu erwecken, daß er nicht mehr sagt: Wenn nur meine Existenz gesichert ist, dann kann ich auch faul sein. - Daß er das nicht sagt, das kann nur durch eine auf den Geist gehende Weltanschauung erzielt werden. Aller Materialismus wird auf die Dauer einzig und allein zu dem Entgegengesetzten führen.

Nun könnte jemand sagen: Das ist ein schönes Pröbchen auf die soziale Frage; das ist recht niedlich! Haben wir das nicht immer gepredigt, könnte der eine sagen, daß die Menschen einmal egoistisch sind, und daß man auf ihren Egoismus rechnen müsse? Und da kommt jetzt die spirituelle Weltanschauung und sagt, das könne anders werden. - Nun, gewiß ist das immer gepredigt worden, daß das nicht anders sein konnte und man hat sich darauf etwas zugute getan und gesagt: Der ist wahrer Praktiker, der auf den menschlichen Egoismus rechnet. - Gewiß, aber hier kehrt sich leider im Denken der Menschen der Spieß nicht um. Denn diejenigen, die alles auf Verhältnisse schieben, die alles auf Einrichtungen schieben, die müssen doch wenigstens zugeben, daß, weil eben die Verhältnisse so waren, wie sie sich bis jetzt gestaltet haben, auch dieser Trieb und Impuls in den Menschen hineingekommen ist. Da aber wird das Denken zu kurz. Denn sonst müßten sie sagen: Ja, es wird unter allen Umständen dadurch eine ganz andere Umgebung geschaffen, wenn sich die Vorstellung einbürgert, daß es unanständig ist, alles auf persönlichen Eigennutz zu bauen. - Da wird der Materialismus inkonsequent selbst seinen eigenen Voraussetzungen gegenüber.

Wir müssen uns klarwerden, daß diejenigen Impulse, die durch die Geisteswissenschaft gegeben werden können, bisher niemals in der Menschheitsentwickelung zu geben versucht worden sind. Insofern ist sie eine neue Geistesbewegung, und sie wird die Kraft haben, bis ins Innerste der Seele zu wirken, weil sie bis ins Innerste der Welt geht. Nur eine Weltanschauung, die bis ins Innerste geht und dort die Wahrheit herholt, kann uns das wahre Antlitz der Welt zeigen. Es ist nimmer richtig, daß wir durch wahre Erkenntnis, wenn wir das wahre Antlitz der Welt sehen, schlecht werden können. Wahr ist es doch, daß das Schlechte im Menschen nur vom Irrtum, nur vom Irren kommen kann. Daher baut die Geisteswissenschaft aus der Erkenntnis der Menschennatur heraus darauf, daß durch sie erreicht werden wird dasjenige, worüber sich gerade der edle Owen so getäuscht hat. Er sagt: Es ist notwendig, daß die Menschen zuerst aufgeklärt werden, daß die Sitten verbessert werden. - Die Geist-Erkenntnis aber sagt: Die Betonung dieses Grundsatzes tut es nicht allein, sondern die Mittel müssen herbeigeschafft werden, wodurch die Seele veredelt werden kann. Denn wenn durch eine ins Geistige gehende Weltanschauung die Seelen veredelt und geschärft sind, dann werden die Zustände und äußeren Verhältnisse, die immerdar ein Spiegelbild sind dessen, was der Mensch denkt, nachfolgen. Nicht durch Verhältnisse werden die Menschen bestimmt, sondern, insofern die Verhältnisse soziale sind, werden diese Verhältnisse durch Menschen gemacht. Leidet der Mensch unter Verhältnissen, so leidet er in Wahrheit unter dem, was ihm seine Mitmenschen zufügen. Und alles Elend, das durch die industrielle Entwickelung gekommen ist - das muß der, der die Wahrheit sucht, zugeben -, das kam lediglich davon her, daß die Menschen dieselbe Kraft des Geistes, die sie angewendet haben auf den segensreichen äußeren Fortschritt, nicht für nötig befunden haben anzuwenden auf die Verbesserung des Loses derjenigen Menschen, die gebraucht werden zur Umgestaltung dieses Fortschrittes.

Was Sie auch studiert haben im äußeren Leben, studieren Sie ebenso emsig die Gesetze des menschlichen Zusammenlebens! Wenn aber Menschen zusammenleben, leben nicht bloß Körper, sondern auch Seelen, Geister zusammen. Daher kann nur die Geisteswissenschaft die Grundlage für irgendeine soziale Weltanschauung sein. Und so sehen wir, daß in der Tat dasjenige, was die Vertiefung des Geistes uns bietet, für jeden von uns das bringen kann, was uns befähigt, von unserem geringen Posten aus innerhalb unserer Sphäre mitzuwirken an dem großen sozialen Fortschritt. Denn dieser Fortschritt wird nicht durch eine abstrakte Maßregel erreicht werden, sondern ist eine Summe dessen, was die einzelne Seele macht. Und an die einzelne Seele geht einzig und allein eine Weltanschauung wie die der Geisteswissenschaft so heran, daß sie wirklich diese Seele über sich erhebt. Hat unser soziales Elend seinen Grund im persönlichen Eigennutz, in der Stellung in unseren sozialen Ordnungen, so kann nur eine Weltanschauung, die das Ich hinaushebt über den persönlichen Eigennutz, helfen. So sonderbar es erscheint, Nahrung kommt nicht allein von unserer Arbeit, Nahrung, statt Not, Leid und Elend, kommt von der geisteswissenschaftlichen Vertiefung. Geisteswissenschaft ist ein Mittel, dem Menschen Nahrung und Wohlstand zu geben, im wahren Sinne des Wortes.

Und so bleibt es, selbst für unsere geänderten Verhältnisse, wirklich berechtigt, was Goethe gesagt hat über das wahre Befreien von allen Hemmnissen und Unglücken des Lebens. Goethe sagt im Gedichte « Die Geheimnisse »:

Von der Gewalt, die alle Wesen bindet,
Befreit der Mensch sich, der sich überwindet.

Und dieser Satz, den Goethe vom einzelnen Menschen gesagt hat, gilt auch für die Menschheit insofern, als dieser Mensch ein soziales Wesen ist: Und von der Gewalt, die alle Wesen bindet, befreien diejenigen Menschen die Welt, die sich überwinden.