Verständnis statt Revolution oder Referendum

Quelle: GA 332a, S. 106, 2. Ausgabe 1977, 26.10.1919, Zürich

Wie denkt Dr. Steiner sich die praktische Verwirklichung der Dreigliederung? Ist es möglich, beim Bundesrat einzuwirken? Oder soll nach genügender Verbreitung der Gedanken ein Referendum stattfinden? Oder wird man abwarten müssen, bis Revolution und Bürgerkrieg die gegenwärtige Ordnung gestürzt haben werden?

Zunächst handelt es sich doch darum, ernst zu nehmen, daß hier eine neue Methode, wenigstens relativ neue Methode gegenüber den Methoden, die sonst eingehalten werden, eingeschlagen werden muß. Es handelt sich darum, daß nicht so, wie das bei den alten Parlamenten der Fall ist, Ziele angestrebt werden, sondern daß aus der Sache selbst heraus, ich möchte sagen, aus den Tendenzen des modernen Lebens heraus, erfaßt werde, was eigentlich die Menschen in ihrem Unterbewußtsein fordern, wenn sie sich auch nicht darüber klar sind. Und dann, wenn man in der Lage ist, das verständlich zu machen, um was es sich handelt, dann werden eine Anzahl von Menschen da sein, welche verstehen werden, was zu geschehen hat. Und wenn eine genügend große Anzahl von Menschen da ist, welche Verständnis dafür haben, was zu geschehen hat, dann werden sich, glaube ich, die Wege ergeben. Ich habe in meinen «Kernpunkten der sozialen Frage» gerade ausgeführt, wie an jedem Punkt des Lebens eigentlich angefangen werden kann mit dieser Dreigliederung, wenn man nur will, wenn man nur ihren Sinn wirklich versteht.

Daß nicht beabsichtigt wird, durch irgendeine Revolution herbeizuführen, was in der Dreigliederung lebt, das beruht auch auf einer geschichtlichen Betrachtung. Ich habe dabei eben das zu sagen, daß ja Umwandelungen auf geistigen Gebieten - man nehme nur das Christentum - im Abendlande stattgefunden haben, daß auch auf politischen Gebieten Umwandelungen stattgefunden haben. Aber schon auf politischen Gebieten lassen die Umwandelungen gewisse Reste übrig. Heute denken die Menschen an wirtschaftliche Revolutionen - wir werden über die ganze Frage im fünften Vortrage noch zu sprechen haben, überhaupt in den nächsten Vorträgen -, aber solche Revolutionen werden alle das Schicksal haben, das die Revolution des europäischen Ostens ganz gewiß haben wird: nur Abbau zu treiben, nicht Aufbau, das die ungarische Revolution hatte, das besonders die deutsche Revolution vom 9. November 1918 hat, die ja vollständig im Versanden ist, die im Versanden ist aus dem Grunde, weil sich deutlich zeigt, daß es heute wahrhaftig nicht darauf ankommt, irgendwelche gewaltigen Umwälzungen herbeizuführen, sondern Ideen zu haben, durch welche normale haltbare Zustände herbeigeführt werden.

Bekennt sich eine genügend große Anzahl von Menschen zum Verständnisse einer solchen Sache, dann ergeben sich die Wege. Denn die Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus ist nicht nur ein Ziel, sondern sie ist eben selbst ein Weg. Aber es handelt sich darum, daß man nicht etwa sich auf den Boden stellt, auf den sich so manche Leute stellen. Ich habe es zum Beispiel in gewissen Gebieten erlebt, als ich die Dreigliederung auseinandergesetzt habe, daß die Leute auch mein Buch «Die Kernpunkte der sozialen Frage» gelesen haben. Sie haben das plausibel gefunden, was drinnensteht. Aber Leute aus dem radikalen Flügel der Linken haben gefunden: Ja, diese Dreigliederung ist sehr gut, aber da muß zuerst Revolution, Diktatur des Proletariats vorausgehen, dann werden wir auf die Dreigliederung zurückgreifen - und recht wohlwollend ist das gesagt worden -; jetzt aber bekämpfen wir sie bis aufs Messer! - Das war die Folgerung: Weil man eigentlich einverstanden ist, bekämpft man sie bis aufs Messer! Das ist mir ja vielfach entgegengetreten. Diese Dinge beruhen eigentlich durchaus auf einem falschen Denken: daß man irgend etwas machen kann, bevor Verständnis dafür geschaffen ist.

Besonders charakteristisch ist eine kleine Episode: Ich habe an einem Orte Süddeutschlands über diese Dinge gesprochen. Da trat ein Kommunist auf. Der Mann war eigentlich ein ganz netter Mensch. Aber er sagte ungefähr im Laufe seines Vortrags das Folgende zu seinen Zuhörern, er war auch ein ganz bescheidener Mensch nach seinem Oberbewußtsein, im Unterbewußtsein sehr, sehr erheblich weniger bescheiden: Sehen Sie, ich bin ein Schuhflicker. Ich weiß ganz gut, da ich ein Schuhflicker bin, daß ich nicht imstande bin, in der zukünftigen sozialen Gesellschaft ein Standesbeamter zu werden. Zum Standesbeamten, da braucht man einen, der dazu vorgebildet ist. - Aber der Mann, der hatte vorher in aller Ausführlichkeit seine Pläne entwickelt über die soziale Ordnung, woraus hervorging: zum Minister in dem Zukunftsstaate, dazu fühlte er sich wohl berufen - zum Standesbeamten nicht, wohl aber zum Minister!

Daß solche Denkweise herrscht, das könnte ich Ihnen noch aus manchem anderen netten Beispiel beweisen. Aber es zeigt eben, daß es sich darum handelt, daß zunächst einmal wirklich Verständnis Platz greife für dasjenige, was der Inhalt der Dreigliederung ist. Dann werden sich die Wege ergeben. Und man sollte hoffen, daß dieses Verständnis Platz greifen könnte, ehe es zu spät ist. Wenn nur ein wenig die heutigen Menschen sich aufrütteln könnten zu dem Verständnis desjenigen, was notwendig ist, dann würde es schon dahin kommen. Dann würde man auch nicht eigentlich fragen, ob man beim Bundesrat vorstellig werden soll durch ein Referendum und dergleichen, sondern man würde wissen: Sobald genügend viel Menschen da sind, ist die Sache auch da - wenn genügend viel Menschen sie verstehen. Das ist es im Grunde genommen, was das Geheimnis gerade einer Gesellschaft ist, die nach Demokratie strebt: daß die Sache da ist, wenn sie wirklich inneres Verständnis findet und wenn sie wirklich innerlich klar ist. Das ist es, worauf es ankommt.