Gefahr wirtschaftlich-geistiger Vertretung im Parlament

Quelle: GA 332a, S. 087-088, 2. Ausgabe 1977, 26.10.1919, Zürich

Wir haben in diesen Jahren einen Staat zugrunde gehen sehen, man möchte sagen: aus seinen eigenen Bedingungen heraus zugrunde gehen sehen, und dieser Staat kann geradezu als Experimentierobjekt auch für Rechtsfragen angesehen werden. Es ist das alte, nicht mehr bestehende Österreich-Ungarn. Wer die Kriegsjahre verfolgt hat, der weiß zwar, daß zuletzt Österreich gefallen ist durch die rein kriegerischen Ereignisse, aber die Auflösung dieses österreichischen Staates ist erfolgt als eine zweite Erscheinung, als etwas, was sich aus seinen inneren Zuständen heraus ergeben hat. Dieser Staat ist auseinandergefallen, und er wäre wahrscheinlich auch auseinandergefallen, wenn die kriegerischen Ereignisse für Österreich glimpflicher ausgefallen wären. Das kann man sagen, wenn man diese Verhältnisse in Österreich - wie es dem möglich war, der hier vor Ihnen spricht; dreißig Jahre meines Lebens habe ich in Österreich zugebracht - durch Jahrzehnte hindurch sachgemäß beobachtet hat.

Es war in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, da trat aus diesem Österreich die Forderung hervor nach Demokratie, das heißt nach einer Volksvertretung. Wie wurde nun diese Volksvertretung gestaltet? Diese Volksvertretung wurde so gestaltet, daß die Volksvertreter sich rekrutierten im österreichischen Reichsrat aus vier Kurien, vier Kurien rein wirtschaftlicher Art: erstens die Kurie der Großgrundbesitzer, eine Kurie; zweitens die Städte, Märkte und Industrialorte, zweite Kurie; drittens die Handelskammern, dritte Kurie; die vierte Kurie waren die Landgemeinden, aber da kamen auch in den Landgemeinden nur eigentlich wirtschaftliche Interessen in Frage. Je nachdem man also Angehöriger einer Landgemeinde, Handelskammer und so weiter war, wählte man seine Vertreter in den österreichischen Reichsrat. Und da saßen nun die Vertreter rein wirtschaftlicher Interessen beisammen. Die Beschlüsse, die sie faßten, kamen, durch Majorität selbstverständlich, aus einzelnen Menschen heraus zustande, aber die einzelnen Menschen vertraten solche Interessen, wie sie sich ihnen ergaben aus ihrer wirtschaftlichen Zugehörigkeit zu den Grund- und Bodenbesitzern, zu den Städten, Märkten und Industrialorten, zu den Handelskammern oder zu den Landgemeinden. Und was kamen für öffentliche Rechte, die durch Majoritätsbeschlüsse gefaßt worden sind, dadurch zum Vorschein? Es kamen dadurch öffentliche Rechte zum Vorschein, die nur umgewandelte Wirtschaftsinteressen waren. Denn selbstverständlich, wenn zum Beispiel die Handelskammern mit den Großgrundbesitzern einig waren über irgend etwas, was ihnen wirtschaftliche Vorteile brachte, so konnte ein Majoritätsbeschluß gefaßt werden gegen die Interessen der Minderheit, die vielleicht gerade die Sache anging. Man kann immer, wenn Interessenvertretungen wirtschaftlicher Art in den Parlamenten sitzen, Majoritäten zusammenbringen, die aus den wirtschaftlichen Interessen heraus Beschlüsse fassen, dadurch Rechte schaffen, die aber gar nichts zu tun haben mit dem, was aus dem Gefühl heraus von Mensch zu Mensch als Rechtsbewußtsein waltet.

Oder nehmen Sie die Tatsache, daß zum Beispiel in dem alten deutschen Reichstag eine große Partei saß, die sich Zentrum nannte, und die rein geistige Interessen, nämlich katholisch-geistige Interessen vertrat. Diese Partei konnte sich zusammenschließen mit jeder anderen, um eine Majorität zu ergeben, und so wurden rein geistige Bedürfnisse in irgendwelche öffentlichen Rechte umgewandelt. Unzählige Male ist dies geschehen.

Was da lebt in den demokratisch werden wollenden modernen Parlamenten, hat man oftmals bemerkt. Aber man ist nicht darauf gekommen, einzusehen, was zu geschehen hat: Eine reinliche Abscheidung desjenigen, was das Rechtsleben ist, von dem, was die Vertretung, die Verwaltung wirtschaftlicher Interessen ist. Der Impuls für die Dreigliederung des sozialen Organismus muß daher in entschiedenster Weise die Abgliederung des Rechtslebens, des Rechtsbodens von der Verwaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse, von der Verwaltung des Wirtschaftskreislaufes fordern.