Krebs- und Kriegsgefahr durch Fremdvertretung im Parlament

Quelle: GA 329, S. 068-070, 1. Ausgabe 1985, 17.03.1919, Bern

Wer heute aus den geschichtlichen Tatsachen heraus denkt, der wird nicht fragen: Was sollen die Staaten tun? - sondern im Gegenteil, er wird vielleicht zu der Frage gedrängt: Was sollen die Staaten unterlassen? - Denn was sie tun und dadurch bewirken, das haben wir in der Tat erlebt in der Tötung von zehn Millionen Menschen und in dem, was achtzehn Millionen Menschen zu Krüppeln machte.

Und so drängt sich die Frage vielleicht doch in die Seele herein: Was sollen die Staaten unterlassen? - Das ist es, was ich hier nur andeuten kann, was aber wahrhaftig aus tiefen Grundlagen einer wahren sozialen Wissenschaft gegenwärtig schon gefragt werden kann. Wenn man sieht auf gewisse politisch-gesellschaftliche Zustände, wie sie sich, ich möchte sagen, typisch entwickelt haben, wie sie aber auch typisch zu ihrem wohlverdienten Ende geführt haben, dann braucht man nur zum Beispiel auf Österreich zu sehen, das sich in den sechziger Jahren hinwandte zu einem gemeinsamen Verfassungswesen im österreichischen Reichsrate.

Was sich dazumal herausgebildet hatte - ich habe drei Jahrzehnte meines Lebens in Österreich zugebracht, habe die Verhältnisse gründlich kennengelernt, habe kennengelernt, was sich dazumal im österreichischen Staate als Verfassungsleben entwickelte -, das paßte zu dem Zusammengewürfeltsein der verschiedenen Nationen wahrhaftig wie die Faust aufs Auge. Und für den, der geschichtliche Tatsachen wirklich verfolgen kann, ist es klar, daß gerade in dem, was dazumal im österreichischen Verfassungsleben gegründet worden ist, was Österreichs Politik geworden ist schon in den sechziger, siebziger Jahren, die Ursache mit veranlagt ist zu dem Ende, in das die Jetzigen Jahre führten.

Warum? Nun, dazumal wurde ein österreichischer Reichsrat begründet. In diesen österreichischen Reichsrat wurde zunächst hineingewählt die reine Wirtschaftskurie, die Kurie der Großgrundbesitzer, die Kurie der Märkte, der Städte und Industrialorte, die Kurie der Landgemeinden. Die hatten ihre Wirtschaftsinteressen zu vertreten in dem Staatsparlament. Und sie machten Rechte, sie machten Gesetze aus ihrem Wirtschaftsleben heraus. Es entstanden nur Rechte, welche eine Umwandlung der Wirtschaftsinteressen waren. Mit Bezug auf das Recht aber hat man es nicht mit demselben zu tun, womit man es zu tun hat auf dem Boden des Wirtschaftslebens. Auf dem Boden des Wirtschaftslebens hat man es zu tun mit den menschlichen Bedürfnissen, mit Warenerzeugung, Warenzirkulation, Warenkonsum. Auf dem Gebiete des Rechtslebens hat man es aber mit dem zu tun, was, abgesehen von allen übrigen Interessen, den Menschen, insofern er rein nur Mensch ist, insofern er als Mensch allen anderen Menschen gleich ist, angeht. Aus ganz anderen Untergründen heraus muß geurteilt werden, wenn die Frage gestellt ist: Was ist rechtens? - als: Was hat zu geschehen, um irgendein Produkt in den Kreislauf des Wirtschaftslebens einzuführen? - Die unnatürliche Zusammenkoppelung der Wirtschaftskurie mit dem Rechtsleben, das ist es, was als eine Krebskrankheit am sogenannten österreichischen Staate fraß.

Diese Dinge könnte man durch die modernen Staaten hindurch an vielen Beispielen verdeutlichen. Es handelt sich nicht darum, daß man diese Dinge bloß studiert, sondern darum, daß man den richtigen Gesichtspunkt findet, unter dem man einen Einblick in die wahre Wirklichkeit gewinnen kann, in dasjenige, was lebt und webt, nicht in dasjenige, wovon sich die Leute einbilden, daß es politisch oder wirtschaftlich das Richtige ist.

Und wiederum, man sehe auf den Deutschen Reichstag, seligen Angedenkens, hin, auf dieses demokratische Parlament mit gleichem Wahlrecht, in welchem zugleich eine Interessenvertretung sein konnte wie der Bund der Landwirte, in welchem aber auch sein konnte eine Vertretung einer bloßen geistigen Gemeinschaft, wie das Zentrum! Da sehen wir hineingeschweißt, hineingeschmolzen in das rein politische Leben etwas, was nur dem Geistesleben angehört. Und zu welchen unnatürlichen Verhältnissen hat dieses geführt!