Anthroposophische Gesellschaft soll über Dreigliederung aufklären

Quelle: GA 190, S. 218-220, 2. Ausgabe 1971, 14.04.1919, Dornach

Was also vor allen Dingen notwendig ist, das ist eine andere Einstellung. Auch die Einsicht, daß es notwendig ist zu sehen, wie diese Kultur, die so gelobt worden ist, den Tod in sich selber getragen hat, sich aufgelöst hat. Sie müssen nicht glauben, daß durch die heutigen radikal sozialistischen Bewegungen die Kultur verdorben worden ist. Die hat sich selbst verdorben! Das, was die Oberschichte an Kultur hatte, das hat sich selbst in die Nullität hineingeführt, das geht an sich selbst zugrunde. Diese Oberschicht hat nur nicht dafür gesorgt, daß die unteren proletarischen Schichten, die nachkommen, etwas Vernünftiges wissen über die sozialen Einrichtungen, und jetzt ist sie verwundert, wenn die in ihrer sozialen Unwissenheit herankommen und eigentlich nichts als ein Chaos herbeiführen. Die Lage ist eben ernst und aus dieser Erfassung des Ernstes der ganzen heutigen Welt fließen die Ideen, die ich in meinem Buche über die soziale Frage habe aussprechen müssen. Dieses Buch wird man nur richtig verstehen, wenn man begreift, daß man heute die besten Einrichtungen treffen kann, daß aber mit den Menschen, die die Ideen unserer Zeit im Kopfe haben, eben nichts zu machen ist. Vor allem müssen die Köpfe mit anderen Ideen erfüllt werden. Was ist also die wirkliche, reale, die wahrhaft praktische Aufgabe? Aufklärung verbreiten, meine lieben Freunde, vor allen Dingen Aufklärung verbreiten und die Menschen umdenken lehren! Das ist der Appell, der an jeden einzelnen von Ihnen geht, Aufklärung zu bringen in die Köpfe der Menschen, nicht an schrullenhafte Reformationen im einzelnen zu denken, sondern in universalistischer Weise aufklären über das, was not tut. Denn vor allen Dingen müssen heute die Menschen anders werden, das heißt, die Gedanken, die Empfindungen in den Seelen der Menschen müssen anders werden.

Es handelt sich darum, diese Ideen dorthin zu tragen, wo man nur kann. Das ist das Praktische, das bedeutet: diese Ideen ins Praktische umsetzen. Mit jedem Viertelmenschen - verzeihen Sie, daß ich so spreche -, den Sie für diese Ideen gewinnen, ist etwas erreicht. Und am meisten ist erreicht, wenn Sie Leute, die in der Praxis stehen, gewinnen. Bei der Unterzeichnung des Aufrufes habe ich neulich gesagt. Es ist ja wirklich recht erfreulich, daß Schriftsteller unter diesem Aufrufe stehen, aber ein Bankdirektor, der den Aufruf wirklich versteht und in seinem Sinn wirkt, ist mehr wert als zehn Schriftsteller, die ihre Namen darunter setzen. Es kommt heute darauf an, das Leben da anzufassen, wo es anzufassen ist. Und das geht heute nicht anders, als indem man vor allen Dingen Aufklärung verbreitet, aufklärend wirkt. Denn, was die Menschen am notwendigsten brauchen, das ist die Kenntnis von den Lebensbedingungen des gesunden Organismus. Wenn die Menschen nicht die Lebensbedingungen des gesunden sozialen Organismus erkennen lernen, so werden sie fortfahren, den alten sozialen Organismus zu zerstören, solange das Zerstören möglich ist. Es geht ja selbstverständlich nur bis zu einem gewissen Punkte. Alles, was jetzt gemacht wird ohne diese Ideen, ist Raubbau an der alten Ordnung, ist Abtragen der alten Ordnung. Dieses hat in Rußland begonnen und wird von da aus weitergehen. Worauf es ankommt, ist, aufzubauen. Aber aufbauen können Sie heute nur, wenn die Menschen verstehen, wie der Aufbau gemacht werden muß. Denn wir leben im Zeitalter der Bewußtseinsseelen-Entwickelung, das heißt im Zeitalter der bewußten Individualitäten, in dem Zeitalter, wo die Menschen wissen müssen, was sie tun.

Aus diesem Geiste heraus ist mein Buch geschrieben, in diesem Geiste möchte ich es verstanden wissen. In diesem Geiste möchte ich es Ihnen ans Herz legen. Es will einfach der Zeit dienen; es will das aussprechen, was aus dem Geiste der Zeit heraus ausgesprochen werden muß. Cliquen, sektiererische Richtungen innerhalb unseres eigenen Gesellschaftskörpers haben genügend dafür gesorgt, daß man im Grunde genommen, wenn von Anthroposophie die Rede ist, allerlei bloßen Geisterspuk und dergleichen vermutet.

Aber der Geist wird hier nicht darin gesucht, daß man immer bloß vom Geiste spricht - das kann man den Herren Saitschick und Foerster überlassen -, sondern es kommt darauf an, daß der Geist in der Lage ist, wirklich in das praktische Leben unterzutauchen, zu verstehen, wie das praktische Leben gehandhabt werden muß. Der glaubt schlecht an den Geist, der ihn nur in einer schattenhaften Gestalt, die über dem Leben schwebt, erfassen will. Daher müssen Sie selbst immer mehr und mehr abkommen von der Abkehr vom Leben, müssen immer mehr und mehr suchen, das Leben wirklich zu verstehen, hinzuschauen auf das Leben; sonst werden immer wieder die gleichen Erscheinungen eintreten, von denen ich gesprochen habe. Die Beispiele können aber verhundert-, vertausendfacht werden. Eine Dame kommt zu mir und sagt: Es ist ein Mensch zu mir gekommen, dem ich Geld leihen soll, aber das ist ein Bierbrauer, der braut für dieses Geld Bier. Ich kann doch das nicht unterstützen, die Bierbrauerei! - Nun ja, das ist ganz schön, in diesem engen Kreis wollte die Dame nicht die Bierbrauerei unterstützen, weil sie abstinent war, und nicht nur für sich abstinent sein wollte, sondern auch für die Abstinenz Propaganda machen wollte. Ich mußte ihr antworten: Sie haben doch Geld auf der Bank, von dem Sie leben. Haben Sie eine Ahnung, wieviel Bierbrauereien die Bank mit Ihrem Gelde versorgt, haben Sie eine Ahnung, was da alles gemacht wird? Glauben Sie, daß das alles im Sinne der Idee ist, die Sie jetzt eben hinsichtlich der Summe, die Sie einem Bierbrauer leihen sollen, erfüllt? Aber sind Sie nicht ebenso dabei, wenn Ihr in der Bank deponiertes Geld in das Wirtschaftsleben übergeführt wird? - Glauben Sie denn wirklich, daß es dem Leben zugekehrt sein heißt, wenn man nichts weiter treibt, als im allerengsten Kreise dieses Leben beurteilen, wenn man sich gar nicht darauf einläßt, die Weiten des Lebens ins Auge zu fassen?

Darauf aber kommt es an: Unsere Anthroposophische Gesellschaft ist kein Experimentierfeld, sondern sie soll ein Kern sein für alles Gute, das über die Menschheit kommen soll. Mit Bezug auf die soziale Frage handelt es sich vor allen Dingen darum, daß von ihr ausströme ein weiter Strom von Aufklärung über soziale Notwendigkeiten. Dann handeln Sie schon praktisch, lebenskundig, wenn Sie diese Dinge verbreiten, aber Sie müssen sich wirklich auch bemühen, sie lebenskundig zu verbreiten, nicht im engen Sinne verbleiben.