Prinzip von Leistung und Gegenleistung anstelle eines Arbeitszwangs

Quelle: GA 331, S. 169-173, 1. Ausgabe 1989, 24.06.1919, Stuttgart

Zu den schwierigsten Aufgaben innerhalb der sogenannten Sozialisierung gehört, herauszufinden, wie innerhalb der sozialen Ordnung Leistung und Gegenleistung in der richtigen Weise reguliert werden können. Und den ersten Anfang mit dieser Regulierung, also mit der wahren Sozialisierung, werden die Betriebsräte zu machen haben. Das bedeutet, daß den Betriebsräten ein großes, ganz fundamentales Ziel gesteckt ist, denn sie werden zum ersten Male Ernst machen müssen mit dem, wovon die anderen nur in Phrasen reden: mit der Sozialisierung. Das, was sich die Leute heute zumeist unter Sozialisierung vorstellen, das ist zum großen Teil nicht nur keine Sozialisierung, sondern bestenfalls eine Art Fiskalisierung. In einigen Fällen liegen überhaupt keine klaren Gedanken und Vorstellungen vor.

Viele Leute stellen sich heute die Sache eben, wie gesagt, viel zu einfach vor, was auch damit zusammenhängt, daß die Wirtschaftswissenschaft und überhaupt die Wissenschaft vom menschlichen Zusammenleben - verzeihen Sie den Ausdruck - noch in den Windeln liegt, ja noch nicht einmal das, denn sie ist eigentlich noch gar nicht geboren. Man sagt nun zwar mit vollem Recht: In der Zukunft soll nicht produziert werden, um zu profitieren, sondern es soll produziert werden, um zu konsumieren. - Das ist ganz richtig, denn man will damit ausdrücken, daß es darauf ankommt, daß jeder das bekommt, was seinen Bedürfnissen entspricht. Aber damit wäre noch kein gesundes Gemeinwesen geschaffen. Dieses ist erst dann gegeben, wenn der Leistung eine Gegenleistung gegenübersteht, wenn also der Mensch geneigt ist, für das, was die anderen für ihn arbeiten, für ihn erzeugen und an ihn liefern, eine entsprechend gleichwertige Gegenleistung zu erbringen. Und gerade dieses Problem ist eben sehr schwierig zu behandeln, was Sie auch daraus ersehen können, daß die gegenwärtige Wissenschaft noch gar keine irgendwie konkrete Vorstellung und auch keine konkreten Vorschläge hierzu hat beziehungsweise machen kann. Sie finden heute bestenfalls den Vorschlag, an die Stelle des bisherigen Staates den Wirtschaftsstaat, eine Art großer wirtschaftlicher Genossenschaft, zu stellen.

Aber sehen Sie, dabei übersieht man, daß es unmöglich ist, einen Wirtschaftskörper, wenn er über eine bestimmte Größe hinausgeht und zu verschiedene Wirtschaftszweige umfaßt, zentralistisch zu verwalten. Das aber würden die Leute erst einsehen, wenn sie tatsächlich den sogenannten Wirtschaftsstaat eingerichtet haben. Dann würden sie schon sehen, daß die Sache so nicht geht. Die Sache muß eben in ganz anderer Weise geregelt werden, nämlich so, daß, auch wenn man an dem Grundsatz festhält, daß produziert werden muß, um zu konsumieren, dennoch der Leistung eine entsprechende Gegenleistung gegenüberstehen muß. Man kann nun sagen: Also kümmern wir uns nun nicht um den vergleichsweisen Wert der einen Ware mit der anderen Ware. - Das, was heute manche Volkswirtschafter sagen, klingt so: Wir kümmern uns nur um die Bedürfnisse und produzieren dann zentralistisch das, was zur Befriedigung der Bedürfnisse notwendig ist, und verteilen das. - Ja, aber sehen Sie, da stellt sich dann heraus, daß man genötigt ist, den Arbeitszwang einzuführen. Dies ist aber eine furchtbare Maßnahme, insbesondere dann, wenn sie nicht notwendig ist. Und sie ist nicht notwendig!

Der Arbeitszwang wird nur für notwendig gehalten, weil man sich dem Aberglauben hingibt, daß es kein anderes Mittel gibt als den Arbeitszwang, um das Prinzip von Leistung und Gegenleistung zu verwirklichen. Außerdem bedenkt man nicht, was für raffinierte Mittel in der Zukunft, wenn zum Beispiel der Arbeitszwang gesetzmäßig eingeführt würde, gefunden werden, um sich der Arbeit zu entziehen. Also, es handelt sich durchaus nicht darum, daß bloß der Arbeitszwang nicht notwendig ist, sondern es handelt sich auch darum, daß er gar nicht durchgeführt werden könnte. Aber, wie gesagt, die Hauptsache bleibt, daß er nicht nötig ist, wenn man restlos das Prinzip durchführt, daß jeder Leistung auch eine entsprechende Gegenleistung gegenüberstehen muß. Dies kann man nun in der folgenden Weise konkretisieren.

Nicht wahr, die Menschen müssen, wenn sie in der menschlichen Gesellschaft leben wollen, arbeiten, das heißt etwas leisten. Dadurch bringen sie etwas hervor, was für die anderen eine Bedeutung hat. Dasjenige, was einer hervorbringt, das muß einen gewissen Wert haben. Er muß für das, was er hervorbringt, dasjenige eintauschen können, was er an Erzeugnissen der anderen für die Befriedigung seiner Bedürfnisse, und zwar für eine gewisse Zeit, benötigt. So lange muß er seine Bedürfnisse befriedigen können durch das, was er eintauscht, bis er wiederum ein Produkt von gleicher Art hervorgebracht hat. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Fabriziere ich ein Paar Stiefel, so muß dieses Paar Stiefel so viel wert sein, daß ich gegen dieses Paar Stiefel dasjenige eintauschen kann, was ich brauche, bis ich ein neues Paar Stiefel hergestellt habe. Einen wirklichen Wertmaßstab hat man erst dann, wenn man einbezieht alles das, was bezahlt werden muß für die Menschen, die nicht arbeiten können, für die Kinder, die erzogen werden müssen, die Arbeitsunfähigen, die Invaliden und so weiter. Es ist möglich, den richtigen Preis der Ware herauszufinden. Hierzu aber ist folgendes notwendig: In dem Augenblick nämlich, wo zu viele Arbeiter an einem Artikel arbeiten, das heißt, wo ein Artikel in zu großen Mengen erzeugt wird, in dem Augenblick wird er wiederum zu billig. Da bekomme ich nicht so viel, daß ich meine Bedürfnisse, bis ich wiederum ein gleiches Produkt erzeugt habe, befriedigen kann. In dem Augenblick, wo zu wenig Arbeiter arbeiten, also ein Artikel nicht in genügender Menge erzeugt wird, wird er zu teuer. Es würden ihn nur diejenigen kaufen können, die über mehr als ein normales Einkommen verfügen. Es ist also notwendig, damit eine gerechte Preisbildung möglich wird, daß dafür gesorgt wird, daß immer die richtige Zahl an Arbeitern - sowohl geistige wie auch physische Arbeiter - an einem Artikel arbeiten. Das heißt, würde es sich zum Beispiel jetzt, wo wir in einer Übergangszeit leben, ergeben, daß irgendein Artikel in zu vielen Betrieben erzeugt wird, also im Übermaß erzeugt wird, so müßte man einzelne Betriebe stillegen und mit den Arbeitern dieser Betriebe Verträge abschließen, damit sie in einer anderen Branche weiterarbeiten. Allein dadurch ist es möglich, daß gerechte Preise entstehen. Auf eine andere Art und Weise ist dies nicht möglich. Wird von einem Artikel zuwenig erzeugt, so müßten für die Produktion dieses Artikels neue Betriebe eingerichtet werden. Das heißt, es muß fortwährend dafür gesorgt werden im Wirtschaftsleben, daß die Produktion unter Berücksichtigung gewisser Verhältnismäßigkeiten geschieht. Dann kann das Lohnverhältnis, dann kann das Kapitalverhältnis aufhören, es braucht nur noch zu bestehen das Vertragsverhältnis zwischen geistigen und physischen Arbeitern über die gerechte [Festsetzung des Anteiles, der denjenigen zusteht, welche die Ware gemeinsam zustande bringen]. Diesem Ideal lebt man eigentlich entgegen, auf dieses Ideal hofft man, auf dieses Ideal muß man zusteuern, und alles das, was nicht auf dieses Ideal zusteuert, das sind unklare Vorstellungen.

Was im Grunde genommen von der Dreigliederung des sozialen Organismus gewollt wird, das ist, daß den Menschen kein blauer Dunst vorgemacht wird, sondern daß ihnen gesagt wird, welches die Lebensbedingungen des sozialen Organismus sind, das heißt, wie man wirklich leben kann. Und es ist möglich, daß der jetzige kranke soziale Organismus gesund wird. Aber man muß dann auch wirklich die konkreten Lebensverhältnisse richtig ins Auge fassen.

Das ist es, worauf es ankommt. Soll aber das geschehen, soll so gewirtschaftet werden, daß die richtigen Preise entstehen, dann bildet dies die wahre Grundlage für die Sozialisierung. Die alten Lohnverhältnisse, also daß man sich einen höheren Lohn erkämpfen kann, was ja meist zur Folge hat, daß die Lebensmittel, die Wohnungen und so weiter teurer werden, müssen überwunden werden. Die Funktion, die Bedeutung, die das Geld heute hat, muß geändert werden. Das Geld wird in Zukunft eine Art wandelnde Buchführung sein, gleichsam ein Aufschreiben dessen, was man hervorgebracht hat und was man dafür eintauschen kann. Dies alles ist nicht etwas, was erst in Jahrzehnten angestrebt werden kann, sondern unmittelbar angestrebt werden kann, wenn nur genügend viele Menschen es verstehen. Alles andere ist im Grunde Wischiwaschi. Daher ist es das erste, um das es sich handelt, daß man weiß, daß es für die Betriebsräte darauf ankommt, daß sie nicht auf einem Gesetz beruhen können, sondern unmittelbar hervorgehen müssen aus dem wirtschaftlichen Leben. Und so müssen in einer Urversammlung der Betriebsräte die Erfahrungen des wirtschaftlichen Lebens im Mittelpunkt stehen. Dann werden sich die Funktionen und Aufgaben der Betriebsräte schon ergeben. Das ist dasjenige, was man verstehen muß, daß nämlich aus dem Wirtschaftsleben und nicht aus dem alten Staatsleben diese Betriebsräteschaft hervorgehen muß und daß diese Betriebsräteschaft das erste sein muß, was wirklich zeigt, was Sozialisierung ist. Sozialisieren kann man nur, wenn man Körperschaften im Wirtschaftsleben hat, welche sozialisieren. Und die Betriebsräte sollen diese erste Körperschaft sein, die wirklich aus dem Wirtschaftsleben heraus sozialisiert.

Man kann nicht durch Verordnungen und Gesetze sozialisieren, sondern man kann nur durch Menschen sozialisieren, die aus dem Wirtschaftsleben heraus wirken. An die Stelle bloß fantastischer Forderungen will der Impuls der Dreigliederung des Organismus die Wahrheit stellen. Und darauf kommt es heute an.