Von der wirtschaftlichen Korporation über die Freiheit zur Staatswirtschaft

Quelle: GA 340, S. 011-012, 5. Ausgabe 1979, 24.07.1922, Dornach

In England hat sich der Übergang zu einer industriellen Auffassung der Volkswirtschaft instinktiv herausgebildet; man wußte eigentlich gar nicht wie. Er ist gekommen wie ein Naturereignis. In Deutschland war zwar das Mittelalterliche im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts vorhanden - Deutschland war ein Agrarstaat; aber während die äußeren wirtschaftlichen Verhältnisse in der Weise verliefen, daß man sie fast noch mittelalterlich nennen könnte, hat sich das menschliche Denken gründlich geändert. Ins Bewußtsein der Menschen ist eingezogen, daß da etwas anderes kommen muß, daß das eigentlich nicht mehr zeitgemäß ist, was vorhanden ist; und so hat sich das, was sich als Umbildung der wirtschaftlichen Verhältnisse im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts in Deutschland ergeben hat, viel bewußter vollzogen als in England. Die Leute haben viel mehr gewußt in Deutschland - in England wußte man es gar nicht -, wie man hineingekommen ist in den modernen Kapitalismus. Würden Sie heute das, was man dazumal, ich möchte sagen, auseinandergesetzt hat, gesprochen hat über das Hineingehen in den Industrialismus, würden Sie das lesen, so würden Sie die Vorstellung bekommen: ja, es ist merkwürdig, wie da die Leute in Deutschland gedacht haben. - Die Leute haben es geradezu als eine volle Menschenbefreiung angesehen -man hat das Liberalismus genannt, Demokratie genannt -, die Leute haben das geradezu angesehen wie das Heil der Menschheit, nun herauszukommen aus alten Bindungen, aus dem alten Korporationswesen, und zu der völlig freien Stellung - wie man es nannte - des Menschen im wirtschaftlichen Leben überzugehen. Wir erblicken deshalb in England niemals eine Theorie über die Volkswirtschaft, wie sie etwa ausgebildet haben Leute, die ihre Bildung aus der Hochblüte dieser Zeit gezogen haben, die ich charakterisiert habe.

Schmoller, Roscher und andere haben ihre Ansichten gezogen aus der Hochblüte dieser liberalistischen Volkswirtschaft. Mit vollem Bewußtsein haben sie aufgebaut, was durchaus in diesem Sinne aufgebaut war. Solch eine Volkswirtschaftslehre würde der Engländer fade gefunden haben. Man denkt doch über solche Dinge nicht nach, würde er gesagt haben. Daher betrachten Sie nur den radikalen Unterschied, wenn man in England - ich will bloß nehmen selbst solche Leute, die schon theoretisch genug waren, wie Beaconsfield-, wenn sie gesprochen haben über solche Fragen, oder wenn in Deutschland gesprochen haben Richter, Lasker oder selbst Brentano. In Deutschland also ist man mit Bewußtsein in diese zweite Periode eingezogen.

Dann kam die dritte Periode, die eigentliche staatliche Periode. Nicht wahr, als das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts heranrückte, da konsolidierte sich der deutsche Staat im Grunde genommen durch reine Machtmittel. Es konsolidierte sich nicht dasjenige, was die Idealisten von den achtundvierziger oder auch schon von den dreißiger Jahren an wollten, sondern da konsolidierte sich der Staat durch reine Machtmittel. Dieser Staat nahm auch nach und nach mit vollem Bewußtsein das wirtschaftliche Leben für sich in Anspruch, so daß das wirtschaftliche Leben in seiner Struktur ganz durchsetzt wurde im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von dem entgegengesetzten Prinzip als früher. Im zweiten Drittel hatte es sich entwickelt unter den liberalistischen Anschauungen, jetzt entwickelte es sich ganz unter den Anschauungen des Staatsprinzips. Das gab dem Wirtschaftsleben in Deutschland seine Gesamtsignatur; und zwar waren Bewußtseinselemente in dieser ganzen Entwickelung drinnen. Und das Ganze war doch wiederum unbewußt.