Freies Geistesleben heißt auch, daß Kinos nicht polizeilich verboten werden dürfen

Quelle: GA 338, S. 167-168, 4. Ausgabe 1986, 16.02.1921, Stuttgart

Das dritte in der Wirtschaft ist, daß man die Bedürfnisse kennt. Denn nur dadurch, daß die Bedürfnisse bekannt sind über ein gewisses Territorium hin, kann in vernünftiger Weise produziert werden. Ein Gegenstand, der zu viel produziert wird, wird ganz unweigerlich zu billig; und ein Gegenstand, der zu wenig produziert wird, wird ganz unweigerlich zu teuer. Es hängt der Preis davon ab, wieviel Leute an der Produktion eines Gegenstandes beteiligt sind. Das ist die Grund- und Lebensfrage der Volkswirtschaft, daß von der Bedürfnis-Befriedigung, und zwar von der freien Bedürfnis-Befriedigung, ausgegangen wird. Was da vorliegt, kann, weil es in einem lebendigen Prozeß ist, nicht durch die Statistik festgesetzt werden, sondern nur dadurch, daß assoziierte Leute über ein bestimmtes Territorium hin einfach, indem sie menschlich bekannt werden mit denjenigen, die das oder jenes Bedürfnis haben, die Summe der Bedürfnisse menschlich kennen und vom rein menschlichen, lebendigen Standpunkt, nicht vom Standpunkt einer Statistik, wiederum darüber verhandeln können, wieviel Leute zur Produktion eines Artikels notwendig sind. So daß man im Assoziationsleben drinnen zunächst diejenigen Menschen hat, die darauf ausgehen, sich über ein Territorium hin, das sich ja aus wirtschaftlichen Unterlagen ergibt, zu unterrichten über die vorhandenen Bedürfnisse, und den Willen entwickeln, Verhandlungen einzuleiten darüber, wieviel Leute in irgendeinem Wirtschaftszweige produzieren müssen, damit die Bedürfnisse befriedigt werden können. Das alles muß verknüpft sein damit, daß man einen Sinn hat für die Freiheit der Bedürfnisse. Es darf in keiner Weise irgendeine Ansicht herrschen bei denjenigen, die zunächst die eben charakterisierte Aufgabe haben, ob irgendein Bedürfnis berechtigt ist oder nicht, sondern es muß sich lediglich handeln um das objektive Konstatieren eines Bedürfnisses.

Die Bekämpfung sinnloser Bedürfnisse, luxuriöser, schädlicher Bedürfnisse, obliegt nicht dem wirtschaftlichen Assoziationsleben, sondern lediglich dem Einfluß des geistigen Lebens. Sinnlose, schädliche Bedürfnisse müssen dadurch aus der Welt geschafft werden, daß vom geistigen Leben die Belehrung darüber ausgeht, daß die Begehrungen, die Empfindungen veredelt werden. Ein freies Geistesleben wird durchaus in der Lage sein, das zu tun. Grob ausgedrückt: Kinos dürfen nicht polizeilich verboten werden, sondern die Leute müssen so gebildet werden, daß sie keinen Geschmack daran finden. Das ist die einzige gesunde Bekämpfung schädlicher Einflüsse im sozialen Leben. In dem Augenblicke, wo von Wirtschafts oder Staats wegen die Bedürfnisse als solche taxiert werden, haben wir es nicht mehr mit einer Dreigliederung des sozialen Organismus zu tun, sondern mit einer chaotischen Durcheinandermischung von geistigen, wirtschaftlichen und sonstigen Interessen. Die Dreigliederung muß durchaus bis in die innersten Fasern hinein ernst genommen werden. Es muß das Geistesleben tatsächlich auf seine Freiheit gestellt werden. Es ist nicht frei, wenn irgendeine so oder so geartete Zensurbehörde da ist, wenn dieses oder jenes verboten werden kann, was im Bereich der menschlichen Bedürfnisse liegt. Man kann noch so wettern, wenn man gerade fanatischen Sinn hat, gegen Kinos; das beeinträchtigt das freie Geistesleben nicht. In dem Augenblick, wo man nach der Polizei schreit, wo man schreit: Das sollte verboten sein, beeinträchtigt man das freie Geistesleben. Das muß festgehalten werden, und man darf da nicht zurückschrecken vor einem gewissen Radikalismus.

So hat man es also zunächst zu tun in den Assoziationen mit Leuten, die sich informieren über die Bedürfnisse innerhalb eines gewissen Territoriums, und die dann Verhandlungen einleiten, nicht Gesetze machen, über die notwendige Produktion.

Sie sehen also, man kann die Sache etwas anders charakterisieren, dann wird sie sich vielleicht sogar, ich möchte sagen, etwas profaner ausnehmen. Aber schließlich zur Illustration kann auch das gesagt werden: man wird zunächst in den Assoziationen objektivierte Agenturen, Agenten nötig haben, die sich eben nicht bloß dafür interessieren müssen, daß derjenige, für den sie Agent sind, möglichst viel verkauft, sondern welche sich fragen: Was für Bedürfnisse sind da? - und die dann sachverständig darin sind, wie man produzieren muß, damit diese Bedürfnisse befriedigt werden.