Von der Theokratie zum Weltrichter

Quelle: GA 305, S. 212-213, 2. Ausgabe 1979, 28.08.1922, Oxford

Theokratie war einmal so intensiv allem sozialen Leben aufgedrückt, daß auch das Ökonomische, wie ich vorgestern sagte, unmittelbar aus den theokratischen Direktiven herauswuchs. Da geht es aber nur bis zu der Landwirtschaft. Die Landwirtschaft läßt sich in einen sozialen Organismus voll hineingliedern, der theokratisch gedacht ist, denn es lebt im menschlichen Herzen, Grund und Boden mit dem Theokratischen zusammenzubringen. Fragen Sie den Menschen, der mit dem Lande, mit dem Grund und Boden zusammengewachsen ist, was ihm das Brot ist. Das Brot ist ihm in erster Linie eine Gabe Gottes. Da sehen Sie im Wortgebrauche dasjenige, was er auf dem Tische hat, zusammenhängen mit demjenigen, was er in der Theokratie erlebt.

Und dann bilden sich die sozialen Ordnungen, die ich vorgestern auseinandergesetzt habe, die begründet sind auf das Händlertum, auf das Gewerbe. Die Frage der Arbeit tritt auf. Ich habe es vorgestern in seiner Entstehung im Römertum zu erörtern gesucht. Und dann tritt auf ein ganz anderes Denken. Alle Begriffe, die wir haben, Eigentum, menschliches Recht gegenüber menschlichem Recht, bekamen damals eine juristisch-dialektisch-logische Färbung. «Gott hat es gewollt», das war die soziale Devise der Theokratien. «Menschen haben es untereinander abzumachen» - das wurde die soziale Devise in der juristischstaatlichen Ordnung.

Und das wirkte so intensiv, daß es allem Leben den Stempel aufdrückte. Nicht nur, was ich vorgestern gesagt habe, daß die Theosophie eine Theologie wurde, sondern viel intensiver noch ging das in das Leben hinein.

Bitte, sehen Sie sich das grandiose Bild an, das heute in der Sixtinischen Kapelle in Rom von Michelangelo gemalt ist: Christus, der Weltenrichter, aus der Zeit heraus, in der am intensivsten das juristischstaatliche Leben alles erfaßt hat. Aber ein religiöses Geheimnis sollte an die Wand gemalt werden der religiösen zentralen Wirkungsstätte.

Glauben Sie, wenn man aus dem alten orientalischen Theokratismus den Christus gemalt hätte, der wäre so geworden, wie ihn Michelangelo gemalt hat? Nimmermehr! Er wäre derjenige geworden, der in irgendeiner Weise die Weltengaben, die Gnaden, die der Mensch erhalten kann, mit segnenden Händen hinunterreicht, und der wäre der Weltengott geworden, der den Menschen segnend gibt.

Was ist der Christus auf dem Bilde von Michelangelo? Der Weltenrichter, der große Weltenjurist, der die Guten belohnt, die Bösen bestraft. Das ganze Bild ist juristisch, ist getaucht in die Zeit, aus der es herausgeboren ist. Das ganze soziale Impulsieren der Zeit schaut man in diesem Bilde noch künstlerisch an. Die einstmalige Anschauung der Götterwelt, wo Gott eben Gott war, hat sich so verwandelt, daß die Welt-Anschauung eine Welt-Jurisprudenz geworden ist. Gott ist der große Jurist auf dem Bilde des Michelangelo. Jurisprudenz zieht sich hinein in die intimsten Fäden des Denkens, auch der Religion. Die Religion wird eine Empfindung desjenigen, was gerecht, ungerecht, gut und böse ist, und wie das zu belohnen oder zu bestrafen ist. Die Welt geht nicht aus in etwas, wohinein sie gegangen ist im alten Oriente: Wiedervereinigung der Menschheit mit der göttlichen Substanz, sondern die Welt naht sich an ihrem Ende der großen juristischen Session, wo juristisch entschieden wird über das Schicksal der Welt.

Michelangelo hat so gemalt. Adam Smith hat so gedacht. Aber er hat gedacht nach der anderen Seite hin. Michelangelo hat gemalt nach der Seite der Theokratie hin, und die theokratische Ordnung ist ihm als Künstler in die juristische hineingerutscht. Adam Smith hat ganz juristisch gedacht; Ricardo ebenso und noch Karl Marx ebenso, und sie wollten dieses juristische Denken über die neue industrielle Ordnung stülpen, die nun nicht mehr den Menschen so hinstellt, wie die früheren Ordnungen den Menschen hingestellt haben.