Richter als Verlust des Sternenhimmels

Quelle: GA 199, S. 243-244, 1. Ausgabe 1967, 10.09.1920, Dornach

Ich habe in diesen Tagen oder in den letzten Wochen gezeigt, wie die verschiedenen Zweige des dreigliedrigen sozialen Organismus auf den verschiedenen Territorien der Erdenentwickelung ihren Ursprung haben. Im Grunde genommen, sagte ich, ist alles unser geistiges Leben nur eine Umwandlung dessen, was im Orient vor langer Zeit entstanden ist. Aber wenn wir das durchprüfen, was wir ja nach der einen Seite hin in den letzten Wochen viel geschildert haben, mit Bezug auf diejenigen Gesichtspunkte, die ich jetzt eben angegeben habe, dann ist das so, daß alles Wissen dieses Orients, insofern es sich auf das Menschenschicksal bezog, abgelesen war von dem Gang der Sterne, abgelesen war von dem, was außerirdisch, außertellurisch ist. Und die griechische Schicksalsidee war der letzte Ausläufer eines solchen außerirdischen Wissens.

Dann kam dazu das Wissen des mittleren Territoriums; das war, wie wir angedeutet haben, ein mehr juristisches Wissen, das war etwas, was der Mensch mehr aus sich selbst herausspann. Das knüpfte nicht an die Beobachtungen an, die aus dem außerirdischen Kosmos kamen. Und ich habe Ihnen gesagt, man merkt es auch der höheren Weltanschauung an, wie sie im Abendländischen durchjuristet worden ist, wie gewissermaßen das, was als Menschheitsentwickelung sich abspielt, unter juristische Begriffe gestellt worden ist. Strafe verhängte der Weltenrichter geradeso, wie der irdische Jurist Strafe für irgendein äußeres Vergehen verhängt. Juristische Art der Anschauung, juristische Art der Vorstellung, das ist dasjenige, was die ganz andere Art der orientalischen Vorstellungen der geistigen Welt durchdrungen hat.

Und diese Anschauung von der geistigen Welt, die hing damit zusammen, daß in den Initiationsstätten diejenigen, die dazu reif befunden wurden, eben eingeweiht wurden in das, was aus den sichtbaren, aber die übersichtbare Welt offenbarenden höheren Gebieten auf die Erde herunterwirkt. Und dann lenkte man das, was auf der Erde zu geschehen hat, nach diesen Intentionen der Einweihung. Bei einem solchen Wissen ist es natürlich notwendig, daß mehr ins Auge gefaßt wird als der einzelne Standpunkt in irgendeinem Lebensjahre, von dem aus man dann ein absolutes Urteil über alles mögliche fällt. Von dem Gesichtspunkte aus muß ins Auge gefaßt werden die ganze Entwickelung des Menschen, aber auch das, was sich der Mensch durch die Geburt hereinbringt ins irdische Dasein, und was sich ihm offenbaren kann, wenn er im irdischen Dasein eine Offenbarung des überirdischen Daseins erblickt.

So ist im Grunde genommen in der neueren Zeit durchjuristet worden, was einstmals eine Art Himmelswissenschaft war. Diese Himmelswissenschaft selber, ihr Schicksal muß man ein wenig ins Auge fassen. Denn, was heiliges Wissen im Orient war, was in den Initiationsstätten in seiner reinsten Form vor vielleicht zehntausend Jahren im Orient gepflegt worden ist, ja, was noch später in Ägypten, wenn auch nicht mehr in so reiner Form, doch immerhin in relativ reiner Form gepflegt worden ist, das wurde, nachdem es in einer gewissen Weise popularisiert worden war, auf den Straßen des späteren kaiserlichen Roms von Schwindlern und Gauklern, allerdings umgewandelt in sichtbare Zauberkünste, verzapft. Das ist eben der Gang der Weltenereignisse, daß etwas, was in einem gewissen Zeitalter heilig ist, nachher zum Allerunheiligsten werden kann. Und während das orientalische höchste Wissen in der späteren römischen Kaiserzeit der Straße angehörte, entwickelte sich aus dem Römertum selbst heraus auf Grundlage des späteren Ägyptertums das juristische Denken, das dann weltbeherrschend wurde. In der Folgezeit, aber nur langsam und allmählich, ist dann verglommen und erstorben, was einstmals im Orient von den Sternen herunter als Menschenweisheit geholt worden ist.