Urteilssprüche Menschheits- statt Mehrheitsfrage

Quelle: GA 031, S. 227-229, 2. Ausgabe 1966, 19.02.1898

Da gibt es die sich modern dünkenden Persönlichkeiten, die sich nicht schämen, ihre Sympathien für reaktionäre Vorstellungen auszusprechen. Solche Moderne [...] können wir den Tendenzen junkerhaften Cliquen zustimmen hören; und aus ihrem Munde müssen wir vernehmen, daß die liberalen Gedanken unseres Jahrhunderts eine Kinderkrankheit unsere Zeit seien. Wie «weise» sprechen solche Männer nicht oft von dem «abstrakten» Freiheitsgedanken, der angeblich dem widersprechen soll, was sie als wirkliche Staatsnotwendigkeit ausposaunen.

Es ist empörend, wenn das Gefühl für einfache, banale Gerechtigkeit verloren geht, weil die Staatsnotwendigkeit fordern soll, daß man diesem Gefühle nicht freien Lauf lasse! Über aller Staatsnotwendigkeit steht die Menschlichkeit, der ihr Recht werden muß. Die journalistischen Staatsmännlein muß ich belächeln, die da sagen: «Die französischen Gerichte haben über den Hauptmann Dreyfus gesprochen, und wir Deutsche haben uns da nicht hineinzumischen; was würden wir sagen, wenn Franzosen zu Gerichte sitzen wollten über einen Spruch, den man bei uns gefällt hat in den äußeren Formen des Rechtes!

Zola sagt: «Die Sache ist eben die: ein falscher Richterspruch ist in die Welt gegangen; gewissenhafte Männer sind gewonnen worden, haben sich zusammengetan, widmen sich der Sache mit immer größerem Eifer und setzen ihr Vermögen und ihr Leben aufs Spiel, nur damit der Gerechtigkeit Genüge geschehe!»

Die journalistischen Staatsmännlein aber sagen: «Die französische Regierung ist nicht verpflichtet, gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung ein Wiederaufnahmeverfahren einzuleiten, weil Dreyfus nach den in seinem Lande geltenden Regeln einmal verurteilt worden ist». Einem Zeitungsschreiber obliegt es nicht, zu konstatieren, daß es in allen Ländern der Brauch ist, bei Landesverratsprozessen ähnlich zu verfahren, wie man in Frankreich beim Falle Dreyfus verfahren ist. Ihm steht besser an, das Widerliche eines solchen Brauchs zu charakterisieren.