Sozialer Organismus statt sozialer Homunculus

Quelle: GA 189, S. 085-086, 2. Ausgabe 1957, 02.03.1919, Dornach

Wenn man heute auf das hinblickt, was sich zum Teil schon in diesem oder jenem Staatsgefüge verwirklicht hat, auf das, nach dessen Verwirklichung auch sozialistisch denkende und gesinnte Köpfe streben, so hat man das Gefühl, daß das, was die Menschen bereits als einen mittelalterlichen Aberglauben empfinden, sich auf der anderen Seite tief in ihren Seelen eingenistet hat. Es ist, als ob die menschlichen Seelen ein gewisses Gelüste hätten nach Aberglauben, und wird ihnen der Aberglaube auf der einen Seite ausgetrieben, so wendet er sich nach der anderen Seite hin. Deshalb wird man sowohl gegenüber manchem Bestehenden im sozialen Leben, wie auch gegenüber dem, was gerade sozialistisch gesinnte Köpfe wollen, an die Szene im zweiten Teile von Goethes «Faust» erinnert, wo Wagner den Homunculus herstellt. Homunculus soll eben aus Ingredienzien mechanisch nach nüchternen Verstandesgrundsätzen zusammengesetzt werden. Die Alchimisten, die man als abergläubische Leute ansieht, stellten sich vor, daß man das nicht so ohne weiteres könne, und stellten diese künstliche Herstellung eines Menschleins, des Homunculus, in Gegensatz zu der Entstehung eines wirklichen menschlichen Organismus. Man kann einen wirklichen menschlichen Organismus nicht aus Ingredienzien zusammenstellen; man muß die Bedingungen herbeiführen, unter denen er gewissermaßen von selbst entstehen kann. Den alchimistischen Aberglauben auf naturwissenschaftlichem Gebiete vermeinen die Menschen überwunden zu haben. Der Aberglaube auf sozialem Gebiete aber blüht. Er versucht, aus allerlei Ingredienzien des menschlichen Wollens eine künstliche Gesellschaftsordnung herzustellen.

Diese Denkweise ist der hier aus geisteswissenschaftlichen Unterlagen heraus vertretenen diametral entgegengesetzt. Die hier vertretene Denkweise strebt danach, allen sozialen Aberglauben abzustreifen und darauf auszugehen, praktisch die Frage zu beantworten: welche Bedingungen müssen hergestellt werden, nicht damit der eine oder der andere aus seiner besonderen Gescheitheit heraus irgendein sozialistisches Ideal verwirklichen könne, sondern damit die Menschen im sozialen Leben untereinander, im gegenseitigen Zusammenwirken die notwendige soziale Gestaltung herbeiführen? Da findet man aber, daß tatsächlich dieser soziale Organismus ebenso wie der natürliche Organismus aus drei in sich relativ selbständigen Gliedern bestehen muß. Geradeso wie der menschliche Kopf, der hauptsächliche Träger der Sinnesorgane, durch die Sinnesorgane in einem besonderen Verhältnis zur Außenwelt steht, wie er für sich zentralisiert ist, wie wiederum das rhythmische, das Lungen- und Atmungssystem sowie das Stoffwechselsystem für sich zentralisiert sind, und wie diese drei in einer relativen Selbständigkeit zusammenwirken, so ist es eine fundamentale Notwendigkeit, daß der soziale Organismus dreigliedrig ist, und daß diese drei Glieder voneinander relativ unabhängig sind. Nebeneinander müssen der selbständig auf sich gestellte Geistesorganismus, der selbständig auf sich gestellte Organismus des politischen Staates im engeren Sinne und das selbständig auf sich gestellte Wirtschaftsleben wirken können. Jede dieser Körperschaften ist mit eigener Gesetzgebung und Verwaltung ausgestattet, die sich aus ihren eigenen Verhältnissen und Kräften heraus ergeben müssen. Das scheint abstrakt zu sein, aber diese Dreigliederung ist gerade das Element, welches die Gesamtmasse der Menschheit so gliedert, daß aus dem Zusammenwirken aller Glieder ein gesunder sozialer Organismus sich ergeben kann. Es kann sich also nicht darum handeln, auszudenken, wie sich der soziale Organismus gestalten soll. Auf sozialem Gebiete geht nämlich unser Denken nicht so weit, daß wir eine Struktur des sozialen Organismus ohne weiteres angeben könnten. Eine Struktur des sozialen Organismus kann der einzelne Mensch von sich aus ebensowenig verwirklichen, wie der einzelne Mensch, der ohne Zusammenhang mit der Gesellschaft auf einer einsamen Insel aufwachsen würde, von sich aus die Sprache erlernen könnte. Alles Soziale ersteht im Zusammenwirken, aber im geregelten, auf dieser Dreigliedrigkeit aufgebauten, wirklich harmonischen Zusammenwirken der Menschen.