Naturwissenschaft sucht Kausalität statt Gesundheit

Quelle: GA 188, S. 222-223, 2. Ausgabe 1967, 01.02.1919, Dornach

Die rein naturwissenschaftliche Betrachtungsweise, welche die Erscheinungen bloß nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung betrachtet, ist im Grunde sowohl auf den gesunden als auch auf den kranken Organismus anwendbar. Sie können den gesunden Organismus physiologisch betrachten, und Sie werden, wenn Sie stehenbleiben wollen bei dem, was die moderne Naturwissenschaft besonders liebt, überall den Zusammenhang von Ursache und Wirkung konstatieren können. Sie können aber geradeso, wenn Sie bei dieser Abstraktion - Zusammenhang von Ursache und Wirkung - stehenbleiben, den kranken Organismus pathologisch betrachten. Auch in dem kranken Organismus hängt alles nach Ursache und Wirkung zusammen. Und legt man einseitig, abstrakt nur zugrunde eine nach Ursache und Wirkung orientierte Folge der Ereignisse, dann bleibt der Impuls, den man auf der einen Seite als gesunden, auf der andern Seite als kranken Impuls bezeichnen muß, notwendigerweise fort. Er fällt heraus aus der Betrachtungsweise. Das ist für die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise mit Bezug auf die Aufgaben, welche die Naturwissenschaft zunächst in der neueren Zeit sucht, nicht weiter schlimm. Das wird aber schlimm, wenn man dieselbe Denkweise anwenden will auf die sozialen Vorgänge, denn da läßt sich nicht aus dem Werdeprozeß der Menschheit einfach der Unterschied zwischen dem Gesunden und dem Kranken ausschließen. Das läßt sich nicht tun. Und das ist es, was zunächst hauptsächlich betont werden muß, daß, so wie die Menschen heute vor den durch die Wirklichkeit so brennend gewordenen sozialen Fragen stehen, ihnen eben durchaus fehlt die Möglichkeit, ein Urteil zu gewinnen, ob irgend etwas ein gesunder oder kranker Prozeß ist, ob irgend etwas gefördert werden muß oder geheilt werden muß. Deshalb, könnte man sagen, liegt eine solche Tragik über der modernen Menschheit, weil gerade dieser Unterschied, den ich eben annähernd charakterisiert habe, fehlt.