Geschichte: Sprünge statt Wirkungen der Vergangenheit

Quelle: GA 073, S. 336-338, 2. Ausgabe 1987, 17.10.1918, Zürich

Geradeso wie die Naturwissenschaft, wenn man sie konsequent verfolgt, über sich selbst hinausführt, so kommt man durch die geschichtliche Betrachtung dazu, sich sagen zu müssen: Die historischen Ereignisse fallen in einem gewissen Sinn auseinander. Man kann nicht im gewöhnlichen Sinn nur von Ursache und Wirkung sprechen und die Gegenwart nur wie eine Wirkung der Vergangenheit betrachten, insofern diese dasjenige enthält, was im Sinnenfälligen gefunden werden kann. Man kommt erst dann zu einer geschichtlichen Betrachtung, wenn man den Menschen anknüpft an das übersinnliche und in den geschichtlichen Tatsachen selbst nicht das sucht, als was sie sich zunächst äußerlich darbieten, sondern wenn man in ihnen dasjenige sucht, was einem zunächst nur geoffenbart wird: einen übersinnlichen Vorgang im Weltgeschehen, in das die Menschen eingeflochten sind.

Dann aber wird die Geschichte etwas anderes als die Betrachtung der aufeinanderfolgenden Tatsachen; dann wird die Geschichte das, was ich nennen möchte eine Symptomatologie. Dann betrachtet man die einzelnen Tatsachen nicht so, wie sie sich einfach darstellen im sinnlichen Leben, sondern dann betrachtet man sie als Symptome, durch die man eindringt in ein hinter ihnen selbst liegendes übersinnliches, übergeschichtliches Geschehen.

Dann wird man auch nicht mehr in derselben Weise nach einer unbedingten Vollständigkeit streben können, die ja ohnedies nicht zu erreichen ist - wer das geschichtliche Material auf irgendeinem Gebiete bearbeitet hat, weiß das -, sondern man wird versuchen, durch die aufzufindenden Tatsachen, die man als Symptome betrachtet, einzudringen in dasjenige, was hinter diesen Symptomen als große geistige Zusammenhänge verborgen ist.

So wird die Geschichte, wenn sie befruchtet werden wird von Geisteswissenschaft, den Weg nehmen aus einer reinen Tatsachenwissenschaft zu einer Symptomatologie. Und in dem Sinne, den ich hier meine, möchte ich Ihren Blick lenken auf wenigstens einige bedeutendere Erscheinungen in der Entwickelung der neueren Menschheit, um zu zeigen, wie der ganze Gang der neueren Geschichte sich darstellt, wenn man versucht, durch Tatsachen hinter die Tatsachen zu kommen.

Wenn man einen solchen Weg einschlägt, dann sieht man sich sehr bald gedrängt, abzukommen von jener Einteilung, die wir von der Schule her gewöhnt sind: daß wir die neuere Geschichte beginnen mit allerlei Betrachtungen über die Entdeckungsreisen und über die Bedeutung der Entdeckung Amerikas oder über Erfindungen und dergleichen. Man fühlt sich vielmehr gedrängt zu fragen: Wo ist ein Punkt - wenn wir bei der Gegenwart anfangen und nach rückwärts das geschichtliche Werden betrachten -, wo im Verlauf der Entwickelung der Menschheit wirklich eine Wendung eintritt, wo neue Lebensformen, neue Lebensverhältnisse eintreten?

Man hat in einer bequemen Weltanschauungsbetrachtung sehr häufig das Bestreben, sich zu sagen, die Dinge verlaufen einfach so, daß sukzessive das Folgende aus dem Früheren hervorgeht und daß nirgends bedeutende Umschwünge, bedeutende Wendungen stattfinden.

Man hat sich ja sogar den bequemen Spruch geprägt: In der Natur fände nirgends ein Sprung statt. - Aber man sehe nur hin auf die Natur, wie da Sprünge stattfinden! Die Pflanze entwickelt zuerst die grünen Laubblätter, verwandelt sie dann in die farbigen Blumenblätter - ein Sprung. Und solche Sprünge sind überall in der Natur vorhanden, trotzdem sie einem gebräuchlichen, bequemen Vorurteil des Menschen widersprechen.

Und in der Tat, schon eine oberflächliche Betrachtung zeigt, daß in der Welt, die uns zunächst naheliegt, in der europäischen Welt, mit dem 15. Jahrhundert eine Änderung in allen Lebensformen eintritt. Dasjenige, was früher insbesondere die Menschheit charakterisiert hat, wie sie in ihrer Seelenverfassung war, wie sie diese Seelenverfassung umgesetzt hat in äußere geschichtliche Taten, das wird anders im 15. Jahrhundert.