Spencer: Nervensystem und Militär als Spitze der Entwicklung

Quelle: GA 072, S. 237-240, 1. Ausgabe 1990, 30.11.1917, Bern

Vor allen Dingen muß man sich klar darüber sein, daß man das Leben nicht nach seinen bloßen äußeren Symptomen beurteilen kann. Gerade das will Geisteswissenschaft: von der Oberfläche fort, in die tieferen Untergründe des Lebens eindringen. Man kann das Leben nicht nach seinen äußeren Symptomen beurteilen. Dasjenige, was heraufgekommen ist als naturwissenschaftliche Denkweise - wie gesagt, ich schätze sie aufs allerhöchste -, das hat sich herausgebildet aus den Denkgewohnheiten, den Denkimpulsen, die in den letzten Jahrhunderten in der Menschheit heraufgezogen sind.

Das ist der Ausdruck dieser Denkimpulse. Und nicht nur das naturwissenschaftliche Denken, sondern alles Denken der Menschheit ist in diese Denkgewohnheiten hineingezogen worden, so daß diese Denkgewohnheiten nicht nur in der Naturwissenschaft segensreich wirken, sondern daß sie wirken müssen auch auf anderen Gebieten des Lebens. Man kann schon sagen: Mühe, Mühe hat man sich gegeben, dasjenige, was die Naturwissenschaft groß gemacht hat, auch hineinzutragen als Gedankenrichtung, als Gedankenimpuls in andere Gebiete des menschlichen Lebens. Die soziologischen, die sittlichen sollen uns heute vorzugsweise beschäftigen. Aber die Impulse haben da anders gewirkt.

Derjenige, der in tieferem Sinne die Zeitgeschichte zu verfolgen vermag, weiß, wie innig zusammenhängt das, was diese Impulse als ihre Wirkungen im Laufe der Zeit geäußert haben, mit dem katastrophalen Ereignis, in dem wir heute leben.

Ich will nur als Ausgangspunkt anführen, daß sich gerade hervorragende Denker bemüht haben, dasjenige, was sich so bedeutungsvoll ergeben hat als naturwissenschaftliche Vorstellungsweise, auch auf das soziologische Gebiet zu übertragen, auf die Betrachtung anzuwenden, die zuletzt in die Geschichte, das geschichtliche Leben der Menschheit einmündet.

Es sei ein Beispiel nach dieser Richtung erwähnt, aber Hunderte und Hunderte von Beispielen könnten erwähnt werden. Der große englische Philosoph Herbert Spencer versuchte, biologische Begriffe, Vorstellungen, die aus der naturwissenschaftlichen Betrachtung des Lebens herkommen, anzuwenden auf das soziale Zusammenleben der Menschen. Der Begriff der Entwickelung ist ja auf alles angewendet worden. Mit Recht ist er angewendet worden auch auf das Leben der Menschen.

Nun sagte Herbert Spencer: Man sieht im organischen Leben, im Leben der Tiere, im Leben der Menschen selber Entwickelung; es entwickelt sich das einzelne Lebewesen so, daß es aus dem Keime hervorgeht, aus einer dreifachen Zellenlage, dem sogenannten Ektoderm, Esoderm und Entoderm. Es sind drei Zellagen, aus denen sich die verschiedenen Organe der Tiere und des Menschen entwickeln. Diese Art, einen naturwissenschaftlichen Vorgang zu erfassen, den versucht Herbert Spencer, der in die naturwissenschaftlichen Vorstellungen hineingewöhnte Herbert Spencer, nun auch auf das geschichtlich-soziale Leben anzuwenden. Er versucht, das, was sich im Menschenleben, im sittlichen, in geschichtlichen, sozialen Leben entwickelt, so zu fassen, daß es auch gleichsam aus einer dreifachen Schichtung heraus sich entwickle. Sehr interessant überträgt er alle diejenigen organischen Systeme, die sich beim Menschen und beim Tiere aus dem Ektoderm herausentwickeln, darauf, daß sich im sozialen Leben das Tun, das Wirken derjenigen Menschen, die dem militärischen Stande angehören, aus dem gleichsam sozialen Ektoderm entwickeln würde, diejenigen Menschen, die dem arbeitsamen Stande angehören, aus dem sozialen Entoderm, und diejenigen Menschen, die dem Kaufmanns-, dem vermittelnden Stande im Sozialen angehören, aus dem Esoderm. Dann ist es ja nur eine notwendige Konsequenz, daß der große englische Philosoph Herbert Spencer weiter sagt: Weil aus dem Ektoderm in der Organisation das Nervensystem und das Gehirn sich entwickelt, entwickelte sich auch aus dem sozialen Ektoderm heraus das Beste.

- Ich werde selbstverständlich diese militaristische Anschauung des Philosophen Herbert Spencer nicht zu vertreten haben, will auch hier aus leicht begreiflichen Gründen nicht über diese Anschauung mich eingehend äußern; aber es ist für ihn nur eine notwendige Konsequenz, daß er dann sagt, die regierenden Kreise irgendeines Staates müßten notwendigerweise aus dem Militärstande hervorgehen, weil sonst der Staat ja kein Nervensystem, kein Kopfsystem hätte, keine Köpfe, sondern nur die untergeordneten Organe.

Dies nur als ein Beispiel, es könnten Hunderte und Hunderte angeführt werden, für den Versuch, der so oft gemacht worden ist, unmittelbar naturwissenschaftliche Denkweise zu übertragen auf das Begreifen des sozialgeschichtlichen Lebens.

Wer ein Gefühl für solche Dinge hat - ich rede zunächst nur von Gefühlen für die Dinge -, der wird sehen, wie alle diese Versuche nur das eine zeigen, daß man mit solchen Vorstellungen, die in der Naturwissenschaft so Großes leisten, überhaupt nicht herankommen kann an dasjenige, was im sozialen, was im gesellschaftlichen Leben wirksam ist. Man kommt nicht heran an diese Dinge.