Christengemeinschaft als praktische Dreigliederungsarbeit

Quelle: GA 342, S. 049-056, 1. Ausgabe 1993, 13.06.1921, Stuttgart

Was Sie also in erster Linie werden suchen müssen, das ist schon die Gemeinschaftsbildung. Und da werden Sie nicht anders können, wenn Sie zu einem wahrhaftigen, zu einem wirklichkeitsgetränkten Ziel kommen wollen, als praktisch Dreigliederung zu treiben, sich wirklich bewußt zu sein, wie man praktisch Dreigliederung treiben kann. Sie brauchen dazu gerade in Ihrem Berufe absolut nicht in abstrakter Weise für die Dreigliederung zu agitieren. Es ist gerade in Ihrem Beruf gut [möglich], für die Dreigliederung ganz praktisch zu arbeiten. Aber das geht nicht anders, als daß Sie den Weg suchen zu denjenigen, zu denen Sie sprechen wollen. Es muß ein wirklicher Weg gefunden werden, Gemeinden zu gründen.

Nun braucht man nicht zu glauben, daß man, indem man so etwas tut, in einem gewissen radikalen Sinn ein Revolutionär werden muß. Das braucht man gar nicht. Es kann sich in dem einen Fall ergeben, daß Sie auf dem ganz regulären Wege in irgendein Pfarramt, in ein Predigeramt kommen. Es kann sich auch ergeben, daß es Ihnen gelingt, die äußeren materiellen Verhältnisse da oder dort so zu dirigieren, daß Sie eine völlig freie Gemeinde begründen. Aber solche freie Gemeinden und solche, in die man das Bestreben hat, Freiheit des religiösen Lebens hineinzutragen, sie müssen zusammengehören; und das kann nur sein, wenn in einer gewissen Weise dasjenige, was Sie anstreben - ich bitte das nicht mißzuverstehen, es soll nicht das Predigen des reinen Machtprinzips sein, aber des berechtigten Machtprinzips -, wenn dasjenige, was Sie anstreben, eine Macht wird, das heißt, wenn Sie eine bestimmte Zahl von Gesinnungsgenossen haben. Etwas anderes wird auf die Welt keinen Eindruck machen. Sie müssen tatsächlich die Möglichkeit haben, über ein großes Territorium hin Leute als Prediger zu haben, die aus Ihren ganz konkreten Kreisen sind. Dazu wird es schon einmal notwendig sein, daß Sie diesen Kreis, den Sie Jetzt haben, mindestens noch zehnmal größer machen. Das wird gewissermaßen Ihre erste Aufgabe sein, daß Sie sich einen so großen Kreis von Gesinnungsgenossen zunächst auf dem Wege, auf dem der kleinere Kreis zustande gekommen ist, eben suchen. Nur dann, wenn in den entferntesten Orten - relativ natürlich entferntesten Orten - gesehen wird, wie die gleiche Bestrebung auftritt, wenn ein Zusammenhalt mit Ihnen über ein größeres Territorium ist, dann werden Sie praktisch zu einer solchen Gemeindebildung schreiten können, gleichgültig, ob Sie auf einem heute anerkannten Wege ins Predigeramt gekommen sind oder sonstwie.

Sie werden so wirken können, daß Sie nun wirklich Ihre Gemeindekinder innerlich, gemüthaft an sich ketten können. Wenn ich sage «ketten», so bedeutet das nicht, Sklavenketten anzulegen. Dazu gehört allerdings, daß die Gemeindemitglieder durch Sie das Bewußtsein bekommen, in einer gewissen Brüderlichkeit zu leben. Die Gemeinden müssen konkrete brüderliche Gefühle in sich haben und sie müssen ihren Prediger-Leiter als eine selbstverständliche Autorität anerkennen, an die sie sich auch wenden in konkreten Fragen. Das heißt, Sie müssen zuerst in diesen Gemeinden, die Sie nicht in agitatorischer Weise Brüdergemeinschaften oder dergleichen zu nennen brauchen, eine selbstverständliche Autorität vor allen Dingen sich verschaffen - so sonderbar es zunächst erscheint - in bezug auf das Wirtschaftsleben. Es muß möglich sein, daß bei Ihnen Rat gesucht wird in wirtschaftlichen Angelegenheiten und in alle dem, was mit wirtschaftlichen Angelegenheiten zusammenhängt, aus der persönlichen Erkenntnis der Gemeindemitglieder heraus. Es muß möglich werden, daß man das Gefühl hat, man bekommt eine Art Direktive aus der geistigen Welt heraus, wenn man den Prediger fragt.

Sehen Sie, wenn man das Leben betrachten kann, dann tritt einem in scheinbar kleinen Symptomen dasjenige entgegen, was eigentlich richtunggebend sein soll. Ich ging einmal in Berlin durch eine Straße und begegnete einem mir seit langer Zeit bekannten Prediger. Der trug eine Reisetasche. Ich wollte höflich sein und irgendeine Frage an ihn richten. Das nächste war natürlich, daß ich die Frage an ihn richtete, die sich aus der Situation heraus ergab: «Treten Sie eine Reise an?» - «Nein», antwortete er mir, «ich gehe eben zu einer Amtshandlung». - Nun mögen Sie darin etwas außerordentlich Unbedeutsames sehen; aus dem ganzen Zusammenhang erschien mir aber die Sache außerordentlich bedeutsam. Der betreffende Prediger war allerdings mehr Theologe als Prediger in seinem Wirken, aber er war durchaus ein innerlich tiefernster Mensch; er hatte in seiner Reisetasche die Dinge, die er brauchte zu einer Taufe und sprach dennoch so, fühlte so, daß er auch einem Menschen gegenüber, von dem er die Voraussetzung haben konnte, daß er eine andere Redewendung verstehen würde, aussprechen konnte: «Ich gehe zu einer Amtshandlung». - Das ist so ungefähr wie bei einem Polizeimann, wenn ein Dieb gesucht werden soll, der geht auch zu einer Amtshandlung.

Das müßte überhaupt ganz aus dem Wirken des Predigers verschwinden, daß irgendwie bei ihm der Zusammenhang mit dem äußeren staatlichen oder sonstigen Leben im Bewußtsein hervortritt. Es muß schon in der ganzen Gefühlsweise, wie sie sich dann in die Rede ergießt, das enthalten sein, daß dasjenige, was da vollzogen wird, durch eine solche Persönlichkeit vollzogen wird, die aus der sich ihres Gottes bewußten menschlichen Persönlichkeit, aus dem freien Antrieb der menschlichen Persönlichkeit heraus handelt. Es muß das Bewußtsein vorhanden sein: Ich tue das nicht als Amtshandlung, ich tue es selbstverständlich aus meinem Innersten heraus, weil die göttliche Kraft mich dahin führt.

Sie mögen das als eine Nebensache ansehen. Gerade die Tatsache, daß man solche Tatsachen als Nebensachen ansieht, die ist vielleicht das Allerwichtigste in den Schäden des heutigen religiösen Wirkens. Wenn solche Dinge wiederum einmal als Hauptsache angesehen werden, daß bis in die kleinste Empfindung hinein der Mensch sich als durchdrungen weiß von dem unmittelbaren Dasein des Göttlichen im Physischen, und wenn sich der Prediger als solche Autorität fühlt, daß er weiß, ich trage das göttliche Leben da hinein, ich vollbringe nicht eine Amtshandlung im heutigen Sinne, sondern ich führe einen Auftrag des Gottes aus -, dann erst wird er auf seine Gemeindekinder dasjenige übertragen, was an Imponderabilien übertragen werden muß.

Dies ist scheinbar recht weit weg von dem Wirtschaftsleben. Und dennoch, man darf nicht so, wie die Sachen heute liegen, die Dinge, die wir hier in Stuttgart anstreben auf dem Gebiete der Dreigliederung, etwa auch für maßgebend halten für andere Gebiete des Lebens. Wir arbeiten die Dreigliederung aus dem Gesamten des sozialen Organismus heraus. Für Ihren Beruf handelt es sich aber um etwas anderes. Für Ihren Beruf handelt es sich darum, jedes der drei Glieder - die ja, auch wenn sie nicht richtig organisiert sind, eben in Wirklichkeit doch da sind -, jedes dieser drei Glieder mit religiös-geistlichem Leben zu durchdringen; so daß - obwohl völlige Freiheit des Ratholens herrscht innerhalb der Gemeinden, innerhalb derer sich ja natürlich auch das Wirtschaftsleben abspielt - gewissermaßen die selbstverständliche Voraussetzung sein muß, daß man in den wirtschaftlichen Dingen, bei denen es sich darum handelt, daß geistiges Leben hineinfließt in die Gemeinde, die Entscheidung bei dem Prediger, bei dem Pfarrer holt. Es muß ein solcher Einklang sein, und vor allen Dingen muß der Pfarrer in innigem Zusammenhang leben mit dem gesamten Wohltätigkeitsleben seiner Gemeinde. Gewissermaßen mit dem Ausgleiche der sozialen Ungleichheiten muß er in einem wissenden Zusammenhang stehen. Das muß in der Gemeinde angestrebt werden. Man muß tatsächlich der Berater der Männer sein, und man muß in gewisser Beziehung auch der helfende Berater der Frauen sein, man muß der Wohltätigkeit der Frauen eine Hilfe sein und so weiter.

Sowohl die Männer als auch die Frauen müssen da, wenn es sich darum handelt, ihre Angelegenheiten des wirtschaftlichen Lebens, wirtschaftlicher Hilfe, wirtschaftlichen Zusammenarbeitens in einem höheren Sinne einzurichten, unbedingt das selbstverständliche Gefühl haben, da hat der Prediger mitzusprechen. Ohne ein Interesse, ein mittuendes Interesse im Wirtschaftsleben, lassen sich religiöse Gemeinschaften nicht begründen, insbesondere nicht in der heutigen schwierigen Zeit des Wirtschaftslebens.

Nicht wahr, solche Dinge können wir zunächst als ein Ideal hinstellen, aber auf dem einen oder anderen Gebiet wird man die Möglichkeit haben, sich dem Ideal mehr oder weniger zu nähern. Sie werden natürlich unendlich viel Widerstände finden, wenn Sie so etwas anstreben. Sie werden Zurückweisungen finden, aber Sie müssen es dazu bringen, daß Ihre Gemeindemitglieder dieses Bewußtsein empfangen, das ich eben charakterisiert habe, und daß durch ihr Verlangen die Notwendigkeit sich herausstellt, dieses richtungebende Hineinsprechen des Predigers in das Wirtschaftsleben zu erzielen.

Ich muß an dieser Stelle sagen, daß vieles Ideal bleiben muß, vor allen Dingen muß heute noch vielfach Ideal bleiben das, was vom Rechtsleben, vom Staatsleben der Anteil desjenigen sein muß, der als Prediger in einer Gemeinde lebt. Ich will ein konkretes Beispiel anführen. Dadurch, daß das religiöse Leben immer mehr den realen Boden verloren hat, sind solche Dinge zustande gekommen, wie sie den heutigen Menschen außerordentlich aufgeklärt erscheinen, wie sie aber aus dem sozialen Leben heraus das religiöse Leben gründlich untergraben. Da ist zum Beispiel die Ansicht, die man heute über die Ehegesetzgebung hat. Es ist ganz zweifellos notwendig, daß die Ehegesetzgebung - mag man sie nun sonst aus anderen Verhältnissen heraus straff oder weniger straff denken -, es ist unter allen Umständen notwendig, daß diese Ehegesetzgebung gewissermaßen sich hineinfügt in die Dreigliederung des sozialen Organismus. Dazu ist aber natürlich notwendig, daß deutlich gefühlt wird gegenüber der Ehe, daß sie in ihrer eigenen Institution durchaus ein Bild des dreigliedrigen sozialen Organismus darstellt. Sie ist erstens eine Wirtschaftsgemeinschaft und muß sich hineingliedern in den sozialen Organismus, insofern er seinen wirtschaftlichen Teil hat. Es muß also ein Zusammenhang gesucht werden zwischen jener Wirtschaftsgemeinschaft, die die Ehe darstellt und den Assoziationen. An das kann heute kaum mehr als gedacht werden, aber aus den Gemeinschaften heraus muß dieses Bewußtsein entstehen, daß vor allen Dingen die wirtschaftliche Seite der Ehe mitgetragen werden muß durch die Maßnahmen der Assoziationen, durch die Maßnahmen des wirtschaftlichen Lebens.

Das zweite ist, daß das Rechtsverhältnis deutlich empfunden wird als ein Verhältnis für sich, und daß der Staat nur in das Rechtsverhältnis der Ehe hineinzureden hat, daß also die Eheschließung zwischen Mann und Weib den Staat nur insofern angeht, als sie eine Angelegenheit des Rechts ist, das vom Staate ausgeht.

Dagegen werden Sie als Ihre ureigene Angelegenheit innerhalb der religiösen Gemeinschaft den geistigen Segen der Ehe beanspruchen müssen in einer völlig freien Weise aus Ihrer Entscheidung heraus. Sie werden also anstreben müssen als ein Ideal, daß in die Freiheit der religiösen Entscheidung hineingestellt wird der religiöse Segen der Ehe und daß diese Entscheidung durchaus respektiert wird, so daß sie als Grundlage angeschaut wird für das andere, daß also tatsächlich durch das Vertrauen, das in der Gemeinschaft existiert, gesucht wird zunächst für die Ehe die Entscheidung des Pfarrers oder des Predigers. Ich weiß natürlich, daß solch eine Sache heute vielleicht sogar von vielen evangelischen Leuten als etwas ganz Unzeitgemäßes angesehen wird, aber wieder kann ich nur sagen: Daß man solche Dinge als unzeitgemäß ansieht, darin zeigen sich ja die Schäden des Zivilisationslebens, die das religiöse Leben ganz unweigerlich untergraben.

Also, Sie werden Ihren Gemeindemitgliedern das Bewußtsein beibringen müssen, daß der eigentliche innere geistige Kern der Ehe mit dem religiösen Leben zu tun hat und daß durchaus auf diesem Gebiete Dreigliederung praktisch werden muß, das heißt, daß alle drei Teile der Ehe allmählich im sozialen Leben ihre Ausgestaltung finden müssen, daß also alle diese drei Dinge drinnen sein müssen. Man soll sich Dreigliederung nicht so vorstellen, daß man ein Programm utopistischer Art aufstellt und sagt, man soll die Dinge dreigliedern. Man gliedert sie in bester Art in diese drei Glieder, wenn man erfaßt, daß in jeder Institution des Lebens die Dreigliederung implizit enthalten ist, und wie man die einzelnen Dinge so gestalten kann, daß die Dreigliederung zugrunde liegt. Man braucht vielleicht gerade innerhalb Ihres Berufes nicht zu starkes Gewicht darauf zu legen, die Dreigliederung in abstracto zu vertreten; aber man muß verstehen, wie das Leben fordert, daß diese Dreigliederung kommt, das heißt, daß jedes der einzelnen Glieder des sozialen Organismus eine wirklich konkrete, daseiende Realität ist.

Natürlich werden Sie heute großen Widerstand dagegen erfahren, aber Sie können gerade in einem solchen Punkte, wenn Sie zunächst aufklärerisch in Ihrer Gemeinde wirken, das Verhältnis, in dem das freie Geistesleben - in dem ja vor allen Dingen das religiöse Element enthalten sein muß - mit dem steht, welches werden soll, am allerbesten entfalten, nicht in, ich möchte sagen, wohlwollenden gegenseitigen Beanredungen, daß man sich gegenseitig duldet, sondern dadurch, daß man tatsächlich das von der Sache Geforderte wirklich auch als sein Ideal hinstellt. Natürlich müssen Sie gewärtig sein, daß man Ihnen da den allergrößten Widerstand entgegenbringt.

Und drittens: Sie müssen die Möglichkeit haben, nun wirklich das zu entwickeln, was im dreigliederigen sozialen Organismus das freie Geistesleben bedeuten soll. Wir haben heute in dem allgemeinen sozialen Organismus überhaupt kein Geistesleben mehr, wir haben ein intellektuelles Leben, wir haben aber kein Geistesleben. Wir haben, ich möchte sagen, keinen Umgang der Götter mit den Menschen. Wir haben nicht das Bewußtsein, daß in allem, was äußerlich in der physischen Welt vorgeht, das göttliche Wirken durch uns selber da sein soll, und daß der wirkliche reale Geist in die Welt getragen werde, daß also sowohl die Handlungen, die sich innerhalb des Wirtschaftslebens abspielen, als auch die rechtlichen Festsetzungen, die sich innerhalb des Staatslebens abspielen, und namentlich, daß der Jugendunterricht und auch die Unterweisung des Alters die freie Tat der an diesem Geistesleben teilnehmenden Menschen sein muß. - Das ist dasjenige, was eben eingesehen werden muß.