Geistesleben entwickelt sich nicht aus eigenen Bedürfnissen heraus

Quelle: GA 332a, S. 023, 2. Ausgabe 1977, 24.10.1919, Zürich

Diejenigen, die die wirtschaftlich Mächtigen sind - das wurde nur zu klar immer weiter und weiter eingesehen -, die sind zu gleicher Zeit durch ihre wirtschaftliche Übermacht im Besitz des Bildungsmonopols. Die wirtschaftlich Schwachen bleiben die Ungebildeten. Ein gewisser Zusammenhang hat sich herausgestellt zwischen dem Wirtschafts- und dem Geistesleben, ein Zusammenhang zwischen dem Geistesleben und dem Staatsleben. Das Geistesleben ist immer mehr und mehr zu etwas geworden, was sich nicht aus seinen eigenen Bedürfnissen heraus entwickelt, was nicht seinen eigenen Impulsen folgt, sondern was - insbesondere da, wo es öffentlich verwaltet wird, im Erziehungs- und Schulwesen - so gestaltet wird, wie es gebraucht wird von den Staatsmächten. Der Mensch kann gar nicht mehr auf das hin angesehen werden, wie und wozu er befähigt ist. Er kann nicht so entwickelt werden, wie es die in ihm vorhandenen Anlagen erfordern. Sondern die Frage ist: Was braucht der Staat, was braucht das Wirtschaftsleben für Kräfte, was braucht es für Menschen mit einer gewissen Bildung?