Michael-Zeit ist Dreigliederungszeit

Quelle: GA 192, S. 016-017, 2. Ausgabe 1991, 21.04.1919, Stuttgart

Auch in der Gegenwart werden zahlreich diejenigen Menschen sein, die da glauben, etwas Bedeutungsvolles zu sagen, wenn sie darüber reden, wie die Menschheit für ewige Zeiten beglückt werden kann, was für Zustände herbeigeführt werden müssen als Idealzustände der Menschheit. Solche Ewigkeitsideen und solche Idealzustände der Menschheit denkt derjenige nicht, der aus dem wirklichen geistigen Leben heraus seine Erkenntnisse schäpft. Wie ich es immer hier auseinandergesetzt habe, war die Entwickelung so, daß stets eine bestimmte Epoche einer anderen Epoche folgte und vor allen Dingen für alle Hauptepochen der nachatlantischen Zeit ein eigenes konkretes Ideal vorhanden war, wie auch für unsere Zeit und für die nächste Zukunft. Nicht darauf kommt es an, wie in chiliastischer Weise ein tausendjähriges Reich herbeizuführen ist, sondern was die geistige Welt für eine kurze Zeitspanne verwirklichen will, die man aber nur übersehen kann, wenn man sich auf eine geistige Wissenschaft wirklich einläßt. Und unsere Zeit fordert eben in dringlicher Art das, was als der Grundnerv dieses Aufrufes geltend gemacht wurde: Die Dreigliederung des sozialen Organismus. Der soziale Organismus kann nur dadurch gesund werden, daß er diese Dreigliederung erhält, die Sie gelesen haben in dem Aufruf, und wie Sie sie finden werden in meiner Broschüre «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft». Der gegenwärtige Menschheitszyklus erfordert diese Dreigliederung.

Sehen Sie, ein ganz anderes wäre es gewesen, wenn noch in der Mitte oder selbst noch im Herbste des Jahres 1917 diese Dreigliederung von bedeutungsvoller Seite, entweder Deutschlands oder Österreichs, geltend gemacht worden wäre, als eine Kundgebung der Impulse Mitteleuropas gegenüber den von amerikanischen Gesichtspunkten entworfenen sogenannten Vierzehn Punkten des Woodrow Wilson. Dazumal wäre das eine historische Notwendigkeit gewesen. Ich habe Kühlmann dazumal gesagt: Sie haben die Wahl, entweder jetzt Vernunft anzunehmen und auf das hinzuhorchen, was in der Entwickelung der Menschheit sich ankündigt als etwas, was geschehen soll - denn was in diesen Auseinandersetzungen steht, ist nicht irgendein Programm, wie es heute so viele haben, sondern ist etwas, was herausgelesen ist aus der Entwickelung der Menschheit und was ganz gewiß realisiert wird in den nächsten fünfzehn, zwanzig, fünfundzwanzig Jahren, was aber vor allen Dingen realisiert werden muß innerhalb Mitteleuropas -, heute haben Sie die Wahl, entweder Vernunft anzunehmen, was sich realisieren will, durch Vernunft zu realisieren, oder Sie gehen Revolutionen und Kataklysmen entgegen. - Statt Vernunft anzunehmen, bekamen wir den Frieden von Brest-Litowsk, den sogenannten Frieden von Brest-Litowsk. Denken Sie, was es gewesen wäre - das kann ohne Renommisterei gesagt werden -, wenn gegenüber den sogenannten Vierzehn Punkten dazumal in den Donner der Kanonen die Stimme des Geistes hineingetönt hätte. Ganz Osteuropa hätte dafür Verständnis gehabt - das weiß jeder, der die Kräfte in Osteuropa kennt -, den Zarismus ablösen zu lassen von der Dreigliederung des sozialen Organismus. Dann wäre zustande gekommen, was eigentlich hätte zustande kommen müssen. Diejenigen, die der Sache dazumal wohlwollend gegenübergestanden haben, haben höchstens den Rat gegeben, man solle das als Broschüre drucken lassen. Nun denken Sie sich, welcher Unsinn das dazumal gewesen wäre. In den mancherlei Dingen, die dazumal nicht gelesen wurden, wäre auch das selbstverständlich Literatur geblieben. Die Zeiten ändern sich. Heute, wo alles auszugehen hat von der breiten Masse, heute, wo zwischen dort und jetzt die Oktober- und Novembertage des Jahres 1918 liegen, heute ist der richtige Weg der, sich mit diesen Dingen an die breite Öffentlichkeit zu wenden. Das sind die größten Schädlinge der Menschheit, die immer glauben, die Sache müsse, wenn sie richtig ist, insofern sie sich auf das praktische Leben bezieht, zu jeder Zeit in gleicher Weise richtig sein. Nein, so faul darf unser Denken nicht werden, wie die Leute, die diese Ansicht haben, glauben. Die Dinge sind zu verschiedenen Zeiten von ganz verschiedenen Gesichtspunkten aus zu beurteilen.

Man muß ja allerdings etwas tiefer hineinschauen in die Entwickelung der Menschheit, wenn man die ganze, volle, weitgehende Praxis desjenigen würdigen will, was gerade dieser Dreigliederung zugrunde liegt. Diese Dreigliederung ist, ich muß das immer wieder und wiederum betonen, nicht etwas, was einem einfallen kann. Sie ist etwas, was der Geist der Zeit und der Gegenwart unbedingt von den Menschen fordert, was der Geist der Zeit verwirklichen will, was der Geist der Zeit - bitte, wenn Sie das Folgende hören, werden Sie auch diesen Satz, den ich jetzt vorausschicken kann, verstehen -, was der Geist der Zeit tatsächlich verwirklicht. Und gerade dadurch entsteht das Chaos, daß die Menschheit anders denkt und vor allen Dingen anders handelt, als der Geist der Zeit denkt und handelt. Eigentlich verwirklicht sich schon seit den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts das, was in dieser Dreigliederung steht, nur die Menschen haben sich anders verhalten und sind dadurch in furchtbare Widersprüche geraten mit dem, was in den Tatsachen verwirklicht wird. Sie wissen, es handelt sich vor allen Dingen um die Dreigliederung des sozialen Organismus in einen geistigen Teil, in einen eigentlich staatlichen oder politischen Teil und in einen wirtschaftlichen Teil. Betonen möchte ich zunächst: Das Erweisen der Richtigkeit dieser Grundanschauung kann aus dem bloßen gesunden Menschenverstand geschehen, wie überhaupt alles aus dem gesunden Menschenverstand heraus begriffen werden kann, was geisteswissenschaftlich gewonnen wird, wie ich das ja auch immer betont habe. Aber ich glaube allerdings nicht, daß aus dem heutigen Denken heraus man in richtiger Weise - bitte nicht zu vergessen, daß ich sagte: in richtiger Weise - dazu kommen kann. Es sind ja Menschen, welche zu ähnlichem gekommen sind, aber es handelt sich darum, daß man auf wirklich praktischer Grundlage dazu kommt, auf einer Grundlage, die dasjenige berücksichtigt, was in unserer Zeit sich verwirklichen will, und eigentlich sich verwirklicht.