Anarchismus - Silvio Gesell und Rudolf Steiner

Geld: Brüderlichkeit durch zinsloses oder durch alterndes Geld?

01.04.2000

Aus Anarchismus und soziale Dreigliederung - Ein Vergleich

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Silvio Gesell hat sich, so viel ich weiß, nie selber als Anarchisten verstanden. Bei seiner Kritik des Zinses verweist er aber immer wieder auf Proudhon. Seine Vorschläge zur Abschaffung des Zinses durch ein alterndes Geld lassen sich auch durchführen, ohne auf den Staat zurückgreifen zu müssen. Sprechend ist darüber hinaus seine Sympathie für die Physiokraten, die sich einer staatlichen Lenkung der Wirtschaft widersetzt haben. Dies hat Günther Bartsch dazu veranlaßt, Gesell für den Anarchismus zu entdecken, beziehungsweise zu erfinden. Wenn ich dies wiederum zum Anlaß nehme, um Gesell mit Steiner zu vergleichen, bedeutet es nicht, daß ich die Einschätzung von Bartsch teile. Was ich an einem solchen Vergleich spannend finde, ist das Ergebnis: Wenn zwei dasselbe sagen, ist es doch nicht dasselbe. Silvio Gesell lehnt die damalige Goldwährung mit dem Argument ab, daß das Geld sich wie jede Ware abnutzen soll. Beides findet sich bei Steiner wieder. Er lehnt einerseits das Gold als Währungsgrundlage ab. Andererseits spricht er wie Gesell von der Notwendigkeit, eine Währung einzuführen, die sich wie die Waren abnutzt. Diese zweite Gemeinsamkeit ist desto frappierender, als dieser Vorschlag einer sich abnutzenden Währung damals nicht gerade üblich gewesen ist. Nichts liegt also näher, als Gesell und Steiner in diesem Punkt gleichzusetzen und zu einer Zusammenarbeit ihrer jeweiligen Anhänger anzuregen.Es gibt aber Aussagen von Steiner über Gesell und dessen Geldtheorie, beziehungsweise über die von Gesell vertretene Alternative zum damaligen Geld, das sogenannte Freigeld. Diese Aussagen sind nicht besonders positiv. Den Ansatz von Gesell bezeichnet er einmal als partiell , das heißt einseitig, im Unterschied zur sozialen Dreigliederung, die umfassend sei. Später kommt er noch einmal darauf zurück und lehnt das Freigeld von Gesell geradeaus als utopisch ab. Anders als im Falle von Bakunin hat nun Steiner Originaltexte von Gesell nachweislich gelesen. In seiner Bibliothek findet sich ein Exemplar von Silvio Gesells « Gold oder Frieden ? », der handschriftliche Notizen von ihm enthält. Gesell beurteilt er also anders als Bakunin nicht aus zweiter Hand. Es bleibt nichts anderes übrig, als sich selber auch mit Gesell zu beschäftigen.« Gold oder Frieden ? » ist zwar nicht das Hauptwerk von Gesell, aber trotzdem sehr aufschlußreich. Dort unterscheidet Gesell zwischen Kaufgeld und Leihgeld. Während die Haltbarkeit der Goldwährung sich auf das Kaufgeld positiv auswirkt, hat sie beim Leihgeld gravierende Folgen. Der Geldbesitzer ist nämlich imstande das Geld, was er selber nicht braucht, zurückzubehalten, ohne daß das Geld und er dabei Schaden nehmen. Er steht daher im Vorteil gegenüber dem Geldleiher und kann ihm seine Bedingungen diktieren, nämlich den Zins. Der Zins ist also das Ergebnis einer Erpressung.

« Dem Gold verdanken wir die Arbeitsteilung und damit auch die Kulturgüter, deren wir uns erfreuen. Dem Gold aber verdanken wir auch wieder, daß von den geschaffenen Gütern das Beste, und der bei weitem größte Teil, dem Schmarotzertum verfällt. Ist doch das Gold der Vater des Kapitalismus. Dank seiner körperlichen (Edelmetall) und gesetzlichen Vorrechten (gesetzliches Zahlungsmittel) nimmt das Gold eine Ausnahmestelle ein unter den Gütern, deren Austausch auf das Geld angewiesen ist. Das Goldgeld ist darum auch zum allgemeinen Sparmittel geworden und der Sparer gibt es nicht wieder heraus, es sei denn, daß man ihm einen Zins verspricht. Früh oder spät verfällt aber alles Geld, das der Staat als Tauschmittel in Umlauf setzt, der Kasse irgend eines Sparers, so daß wiederum alles umlaufende Geld aus den Sparkassen kommt, also mit Zins belastet den Markt betritt, um seine Funktion als Tausmittel zu erfüllen. Diese Doppelverwendung des Geldes als Tauschmittel und als Sparmittel ist gegensätzlicher Natur und als Mißbrauch des Tauschmittels zu betrachten. Dadurch, daß der Umtausch der Produkte nur verzinsliches Geld zur Verfügung steht, wird der Zins Vorbedingung der Warenproduktion überhaupt. Das Geld stellt sich vor die Tore der Märkte, der Läden, der Fabriken, jeder "Kapitalanlage" (soll heißen Geldanlage) und läßt nichts durch, was der Zins nicht bezahlt oder bezahlen kann. So sagt Proudhon. »

Würde sich das Geld abnutzen, so würde der Geldbesitzer in derselben Klemme sitzen wie der Geldleiher. Bei einer solchen Gleichberechtigung entfällt dann der Zins. Die negativen Auswirkungen einer Abnutzung des Geldes auf das Kaufgeld scheint Gesell in Kauf zu nehmen. Zumindest kommt er in diesem Aufsatz nicht mehr darauf zu sprechen.Diese von Gesell offen gelassene Frage wird von einem Teilnehmer des von Steiner 1922 gehaltenen « Nationalökonomischen Kurses »

aufgegriffen. Dieser fragt nämlich, ob das Geld sich auch als Kaufgeld abnützen soll. Diese Frage wird erst verständlich, wenn man sie vor dem Hintergrund des Aufsatzes von Gesell liest und entsprechend ergänzen kann: Soll sich das Geld nur als Leihgeld oder auch als Kaufgeld abnützen? Der Teilnehmer fragt zugleich, ob sich das Geld allmählich abnützen wird.In seiner Antwort geht Steiner auf beide Fragen ein. Das Kaufgeld wird bis zuletzt denselben Wert haben und ihn nur auf einmal verlieren. Steiner spricht von einem Wechselcharakter des Geldes, insofern es ein Endtermin geben wird. Als Leihgeld wird das Geld zwar auch bis zuletzt seine Kaufkraft behalten, wird aber allmählich von seiner Verwertungskraft für alles Organisieren verlieren. Bei Steiner ist, anders als bei Gesell, keine Rede davon, daß sich die Abnutzung des Geldes auf das Kaufgeld negativ auswirken könnte. Das mag damit zusammenzuhängen, daß sich das Kaufgeld nicht allmählich abnutzt. Aber auch in der Frage des Leihgeldes gehen die Meinungen von Steiner und Gesell auseinander. Gemeinsam ist, daß sich am Leihgeld nur allmählich etwas ändert. Ob sich bei beiden dasselbe ändert, ist schon fraglich. Eindeutig aber ist, daß sich Steiner von einer solchen Änderung nicht dasselbe verspricht wie Gesell. Er verspricht sich davon zwar viel Gutes, aber keine Abschaffung des Zinses. Das liegt daran, daß er anders als Gesell den Zins nicht auf die Haltbarkeit des Geldes zurückführt. Mit dem Zins wird der Gläubiger laut Steiner für einen Verzicht entschädigt. Die übliche Wirtschaftstheorie verweist hier gern auf den Verzicht auf sofortigen Konsum. Auf dieses Argument geht aber Steiner überhaupt nicht ein. Ihm geht es nicht um den Verzicht auf den jetztigen Konsum, sondern um den Verzicht des Gläubigers darauf, später vom seinem jetztigen Schuldner Geld zu borgen, wenn er eines Tages selber dazu kommen sollte, Geld zu brauchen. Der Zins steht als Ausgleich für den Verzicht auf Gegenseitigkeit beim Leihen. Der Gläubiger bekommt ein Mehrgeld und verzichtet im Gegenzug darauf, in Zukunft Leihgeld zu bekommen.

« Überall in der Geschichte, wo Sie zurückgehen, werden Sie sehen, daß die Voraussetzung des Leihens die ist, daß der andere wiederum zurückleiht, wenn es nötig ist. [...] Es kommt gerade, wenn es sich um das Leihen handelt, die menschliche Gegenseitigkeit in einer ganz eklatanten Weise in den volkswirtschaftlichen Prozeß hinein.

Was ist denn dann, wenn die Dinge so sind, der Zins? Der Zins - das ist übrigens schon von einzelnen Volkswirtschaftern bemerkt worden -, der Zins ist dasjenige, das ich bekomme, wenn ich auf die Gegenseitigkeit verzichte, wenn ich also jemand etwas leihe und ausmache mit ihm, daß er mir niemals etwas zu leihen braucht; dann, wenn ich also auf diese Gegenseitigkeit verzichte, dann bezahlt er mir dafür den Zins. Der Zins ist die Ablösung geradezu für etwas, was zwischen Mensch und Mensch spielt, ist die Vergeltung für dasjenige, was im volkswirtschaftlichen Prozeß als menschliche Gegenseitigkeit spielt. »

Das Prinzip der Gegenseitigkeit spielt bei Steiner eine zentrale Rolle, sobald es um Wirtschaftsleben geht. Dies kann zunächst verwundern. Es heißt eben doch Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben und nicht bloß Gegenseitigkeit. Mit der Brüderlichkeit sollte es eigentlich so weit gehen, daß der Gläubiger auch mal auf Gegenseitigkeit verzichtet. Steiner scheint aber solche Erwartungen für ziemlich unbrüderlich zu halten. Die Gegenseitigkeit ist nämlich eine notwendige Bedingung, um von der ursprünglichen Selbstversorgung wegkommen zu können. Die heutige Arbeitsteilung geht so weit, daß kaum noch jemand für sich selbst arbeitet. Steiner spricht von einem objektiven Altruismus. Dieser Altruismus hat noch dazu den Vorteil, daß an jedem Tausch nicht nur eine Seite, sondern beide Seiten gewinnen. Es braucht sich daher keiner ins eigene Fleisch zu schneiden, um seinem Bruder gut zu tun. Steiners Auffassung der Brüderlichkeit ist, wie gesagt, etwas nüchtern.Man kann sich aber fragen, warum Steiner das Geld denn altern lassen will, wenn nicht um die Zinsen abzuschaffen. Die Schwierigkeit des Wirtschaftslebens liegt darin, daß der Tausch nicht unmittelbar stattfindet, sondern gerade über das Geld. Dem Geld ist es gleichgültig für welche Ware es steht. Es kann von der konkreten Beschaffenheit der einzelnen Waren völlig absehen. Steiner sieht daher das Geld als eine Abstraktion an. Und da das Geld nicht einfach ein Gedanke ist, sondern zu einer Realität gemacht worden ist, spricht er etwas paradoxal von einer realen Abstraktion. Diese Abstraktion, das Geld, erleichtert natürlich den Tausch. Mit der Gegenseitigkeit sieht es aber anders aus. Das Geld legt einen Schleier über die Wirtschaft. Aus dem Tausch wird dabei leicht eine Täuschung, weil das Geld immer die Tendenz hat, den Kontakt mit der wirtschaftlichen Realität zu verlieren. Steiner macht es daran fest, daß das Geld, anders als die Waren, nicht altert. Das Fleisch fängt an zu stinken, wenn es alt wird, das Geld tut es aber nicht. Es soll aber dafür gesorgt werden, daß das Geld wie die Waren altert. Nur dadurch ist es möglich, sich streng an das wirtschaftliche Prinzip der Gegenseitigkeit zu halten.Damit sind wir wieder bei unserem Ausgangspunkt angelangt, dem Altern des Geldes. Das Beispiel mit dem Fleisch findet sich nicht nur bei Steiner, sondern auch bei Gesell. Und gerade dies hat viele dazu veranlaßt, Steiner und Gesell in puncto Geld gleichzusetzen. Dies wird unmöglich, wenn man andere Aussagen von Steiner hinzunimmt. Dann wird klar, daß das Geld wie die Waren altern muß, aber nicht deswegen altern muß, weil die Waren altern. Entscheidend sind nicht die Waren, sondern die Produktionsmitteln. Es kann nur so viel über das Geld getauscht werden, als auch produziert wird. Das Geld muß daher jedes Mal dort entstehen, wo Produktionsmitteln zum Einsatz kommen. Es muß aber auch entsprechend aus dem Verkehr gezogen werden, wenn diese Produktionsmitteln verbraucht sind. Verbraucht heißt hier etwas anderes als bei Waren. Während verbrauchte Waren sich nicht mehr für den Konsum eignen, eignen sich verbrauchte Produktionsmitteln mehr zur Produktion. Das Geld muß also nur deswegen altern, weil die Produktionsmittel altern.Dies macht erst verständlich, wieso Steiner auf die Goldbindung der Währung verzichten kann. Bei ihm ist die Währung an den Produktionsmitteln gebunden. Er überläßt es daher nicht, anders als Gesell, irgendwelchen Wissenschaftlern, die Geldmenge zu bestimmen. Solche Währungshüter wären mit ihrer Aufgabe überfordert. Die Geldmenge kann weder durch eine Zentralbank, noch durch Banken überhaupt geregelt werden. Das Geld verselbständigt sich sonst und verliert, wie die reinen Banken, den Kontakt mit der wirtschaftlichen Realität. Benötigt werden Bank-Betriebe, also ein Mittelding zwischen Bank und Betrieb, die allein die von ihnen selbst emittierte Geldmenge konkret an die eigene Produktionskapazität binden können.

« Ich habe gezeigt, daß etwa seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts das Geld im Wirtschaftsleben der modernen Zivilisation eine ähnliche Rolle spielt wie die abstrakten Begriffe in unserem Denken, daß es allmählich ausgelöscht hat alles konkrete Streben, daß es wie ein verdeckender Schleier sich hinüberlegt über das, was sich in wirtschaftlichen Kräften ausleben muß. Und daher entsteht heute die Notwendigkeit, etwas zu begründen, was nicht bloß eine Bank ist, sondern was die wirtschaftlichen Kräfte so konzentriert, daß sie zu gleicher Zeit Bank sind und zu gleicher Zeit im Konkreten wirtschaften. Also es besteht die Notwendigkeit, etwas zu begründen, was zusammenfaßt wirklich konkretes Wirtschaften und die Organisation dieser Wirtschaftszweige, so wie sonst in einer Bank das Wirtschaftsleben zusammengefaßt wird, aber ohne auf wirtschaftliche Verhältnisse Rücksicht zu nehmen, nur in abstrakter Weise.. »

Die einzig realen Währungshüter sind die Produktionsmittel. Werden die verbrauchten Produktionsmittel nicht ersetzt, dann kann auch das abgelaufene Geld nicht durch neues Geld ersetzt werden. Das Altern des Geldes, wie es von Steiner gemeint ist, darf also nicht mit Inflation verwechselt werden. Es soll im Gegenteil eine Stabilität der Währung erst ermöglichen.Von einer solchen Währungsgrundlage findet sich in dem Aufsatz von Gesell keine Spur. Dies erklärt auch, warum seine Geldtheorie, anders als die von Steiner, ohne Schenkgeld auskommt. Bei seiner Argumentation für ein alterndes Geld spielen nämlich nur Kaufgeld und Leihgeld eine Rolle. Steiner besteht aber darauf, daß eine wirkliche Wirtschaftswissenschaft darüber hinaus noch eine dritte Geldart berücksichtigen muß, das Schenkgeld. Das Schenkgeld ist bei Steiner das Geld, das kurz davor ist, seinen Wert zu verlieren. Wobei nicht vergessen werden darf, daß es sich nicht um eine allmähliche, sondern um eine abrupte Entwertung geht. Ein solches Geld taugt weder als Kaufgeld für den eigenen Bedarf noch als Leihgeld, da es jede Verwertungskraft für das Organisieren verloren hat, sondern nur noch als Schenkgeld. Was heißt das eigentlich ?Schenkgeld ist für Steiner alles Geld, was ins Geistesleben reingesteckt wird. Das klingt zunächst etwas idealistisch und sieht so aus, als ob das Schenkgeld weniger mit Wirtschaftsleben als mit Moralpredigt zu tun hat. Das hat aber bei Steiner einen ganz anderen Hintergrund. Sein Geistesleben bildet nicht nur mehr oder weniger brauchbare Akademiker aus, sondern überhaupt alle menschliche Fähigkeiten. Ohne diese Fähigkeiten wären alle Produktionsmittel umsonst, weil sie gar nicht eingesetzt werden könnten. Sie könnten dann keine Währungsgrundlage bilden. Die Währung kann erst einen dauerhaften Wert haben, wenn das Geistesleben immer wieder versorgt wird.Dasjenige was Steiner unter Schenkgeld versteht, geht aber noch darüber hinaus. Menschliche Fähigkeiten einerseits und Produktionsmittel andererseits helfen allein für sich genommen nichts. Sie müssen zusammenkommen. Und hier zeigt sich die soziale Dreigliederung von einer Seite, die viele zurückschrecken läßt. Schenkgeld heißt bei Steiner auch, daß derjenige, der Produktionsmittel besitzt, aber nicht mehr seine Fähigkeiten darauf anwendet, diese Produktionsmittel weiter verschenken muß. Und nicht irgend jemandem, zum Beispiel seinen Familienangehörigen, sondern der Person, die am besten dazu geeignet ist, diese Produktionsmittel zu verwalten. Schenkgeld bedeutet hier nicht, daß es ihm frei steht, diese Produktionsmittel zu verschenken oder nicht. Es heißt nur, daß ihm vertraut wird, die bestgeeignete Person selber zu finden. Man kann von einer Fähigkeitenbindung des Kapitals sprechen. Erst dann sind alle Bedingungen erfüllt, damit die Währung einen Dauerwert haben kann.Das Geld kann nun sterben. Es wurde alles mögliche getan, damit es wieder auferstehen kann.

Sylvain Coiplet