Oberschlesier erklären sich zur kulturellen Minderheit

29.05.2002

Das Statistische Hauptamt Polens (GUS) wird Fragen nach der Bevölkerung des größten ostmitteleuropäischen EU-Kandidaten bald ganz genau beantworten können. Denn seit einer Woche sind knapp 180 000 Helfer im Dauereinsatz an Wohnungstüren, um im Rahmen der Volkszählung zu klären, wie die Polen leben, was sie verdienen und wie sie sich selber definieren. Kaum eine Frage aber hat für so viel Turbulenzen gesorgt wie die Klärung von Nationalität und Muttersprache.

Seit Monaten machen die Minderheitenorganisationen mobil und rufen in Flugblättern dazu auf, sich zur ethnischen oder nationalen Gruppe zu bekennen. Von den Ergebnissen der Volkszählung dürfte auch abhängen, wie viel Geld die Minderheitenverbände künftig für ihre Sprach- und Kulturarbeit erhalten. Nachdem die knappe Staatskasse ohnehin bereits zu heftig kritisierten Sparmaßnahmen geführt hat, fürchten die Vertreter der Minderheiten, ein Bekenntnis zur polnischen Nationalität könne weitere Streichungen folgen lassen.

Zugleich geht es ihnen darum, oft tief verwurzelte Ängste vor den Folgen des Bekenntnisses zur Minderheit zu beseitigen. "Fürchtet euch nicht", appellierte etwa Joachim Niemann vom Verband der Deutschen Kulturvereinigungen in Polen. "Die Zeiten von Diskriminierung und Verfolgung sind vorbei. Heute können wir in unserer Heimat sein, was wir wirklich sind."

Genau dies zu machen, ist für viele Polen nicht leicht, weil sich die Frage nach dem, was sie wirklich sind, oft schwer beantworten läßt. Es gibt festdefinierte Minderheiten wie Litauer, Ukrainer und Deutsche, aber es gibt viele die sich nicht in solche Kategorien zwängen lassen.

"Polen, Europa und die Welt sollen endlich wissen, dass es die Lemken gibt." Damit forderte etwa der Verband dieser Gruppe ein Bekenntnis zur eigenen Nationalität, statt zur ukrainischen oder polnischen. Mehrfach umworben werden auch die Oberschlesier. Während die deutsche Minderheit mit einer Flugblattaktion zur Angabe der deutschen Nationalität aufgerufen hat, fordert die "Bewegung für Schlesische Autonomie" seit Jahren vergeblich die Anerkennung einer eigenen oberschlesischen Minderheit.

Wer einmal Oberschlesiern begegnet ist, weiss, dass man es hier weder mit Deutschen noch mit Polen zu tun hat. Ihre Wesenart und Geistesleben ist innerlich kohärent durchwebt von beiden Kulturen. Ihre Volksart besteht darin zwischennational, und damit geistig frei zu sein. Das hat Rudolf Steiner erkannt, und hat sich 1920/1921 dafür eingesetzt, von Volksabstimmungen nach dem ersten Weltkrieg abzusehen, und Oberschlesien weder Deutschland noch Polen zuzusprechen, bzw. Teilen, sondern Oberschlesien für unabhängig zu erklären. Nur so hätte eine kulturelle Vergewaltigung Oberschlesiens verhindert werden können und hätte den in sich abgeschlossenen Wirtschaftsraum intakt bewahrt. Für die Entente hieß aber Selbstbestimmungsrecht nur zwischen Deutsch oder Polnisch zu wählen. Und dieses Denken ist heute noch geblieben.

Man mag, wie ein Joachim Niemann, den Oberschlesiern empfehlen, sich zum Deutschtum zu bekennen, um dadurch ein Gegengewicht zur polnischen Autokratie im Geistesleben zu haben und damit den Oberschlesiern das Schweben im nationalfreien Raum erleichtern. Aber die Polarität trägt nicht weiter, sondern nur die Freiheit im Geistesleben. Und wer kann das besser vertreten als die Oberschlesier? Rudolf Steiner würde mit Freude vernehmen, dass sein Impuls für Oberschlesien sich nun indirekt dort eingefunden hat durch die "Bewegung für Schlesische Autonomie", nach langer Zeit der kulturellen Ignoranz. Kulturelle Autonomie für Minderheiten ist oft ein hinterlistiges Danaergeschenk, das nicht zur Freiheit im Geistesleben führt, sondern nur einen Kulturstaat im Kulturstaat errichtet. Mit Oberschlesien steht die Sache aber anders und Autonomie wäre hier zur Abwechslung einmal konstruktiv.