Direkte Demokratie als 10% Demokratie

14.02.2002

Die rot-grüne Regierungskoalition will noch in dieser Legislaturperiode die Einführung von Volksentscheiden auf Bundesebene vorantreiben. Künftig sollten die Bürger selbst in Sachfragen entscheiden können, sagte der Grünen-Bundestagsabgeordnete Gerald Häfner am 08.02.2002 in Berlin. Auf entsprechende Eckpunkte für das geplante Gesetz hätten sich jetzt beide Koalitionspartner verständigt. Noch nicht abschließend in der Koalition behandelt ist Häfner zufolge die Frage eines Ausschlusses von Themen bei Volksentscheiden. Die vereinbarten Eckpunkte sehen ein dreistufiges Verfahren von der Volksinitiative über das Volksbegehren bis hin zum Volksentscheid vor. Für die dafür notwendige Grundgesetzänderung, die eine Zweidrittel-Mehrheit voraussetzt, werbe die Koalition auch bei den Oppositionsfraktionen um Zustimmung, unterstrich der Grünen-Abgeordnete. Bei dem Vorhaben handele es sich um eine "wesentliche demokratiepolitische Reform". Die Möglichkeit zum Volksentscheid werde das Engagement der Bürger erhöhen und ihre "Identifikation mit dem Gemeinwesen stärken".

Wer sich mit diesem Vorstoß in Sachen Volksentscheid mit der Emanzipation der Bürger vom Parteitreiben der Machtklüngel und das Erwachen der Mündigkeit der Bürger erhofft, hat sich zu früh gefreut. Die Eckpunkte berücksichtigt die jetzige Entscheidungsstruktur mit der föderalen Parität des Bundestags und Bundesrats und des Verfassungsgerichts und stellt somit viele Hürden für den Volksentscheid auf.

Der Volksentscheid scheint zwar bei "weichen" Themenkomplexen vielversprechend zu sein: Nach Überwindung der Unterschriftensammlungen, wird durch Volksentscheid ein Gesetz dann zustande kommen, wenn ihm die Mehrheit der Abstimmenden zugestimmt hat und sich mindestens 20 % der Stimmberechtigten an der Abstimmung beteiligt haben. Diesen Volksentscheiden sind große Chancen eingeräumt worden, aber unter Umständen entscheiden hier 10% der Bevölkerung über den entpolitisierten Rest.

Entscheidend schwieriger wird es sein, wenn es um Reformgesetze geht. Erstens wird die föderative Gliederung der Bundesrepublik beim Volksentscheid berücksichtigt: Bei Verfassungsänderungen und bei Gesetzen, die im parlamentarischen Verfahren der Zustimmung des Bundesrates bedürften (zustimmungspflichtigen Gesetzen), werden die Stimmen doppelt gezählt: das Ergebnis der Abstimmung in jedem einzelnen Bundesland gilt dabei als Abgabe einer Bundesratsstimme. Bundesrats-Zustimmungspflichtige Gesetze sind aber die Mehrheit der Bundesgesetze, da nach GG Art. 84I alle Vorschriften über die Behördenzuständigkeit oder das Verwaltungsverfahren der Bundesrat-Zustimmung bedarf.

Dieser Vorstoß zur direkten Demokratie kann nur als Mittel zum Zweck einer richtigen, direkten Demokratie gelten. Dafür rechnet er viel zu undemokratisch und funktioniert als fünftes legitimierendes Stützrad am parlamentarischen Wagen.

Für die direkte Demokratie wird es für die Zukunft zwei wichtige Aufgaben geben, um zu dreigliederischen Demokratieidealen zu gelangen.

Erstens wird die politische Mündigkeit der Bürger nicht durch die Institution der Volksentscheide allein, sondern durch die Dynamisierung des freien Geistesleben erreicht.

Die Erfarungen mit Volksentscheiden, beispielsweise bei EU-Angelegenheiten in Dänemark, haben gezeigt, dass solange die Politiker den öffentlichen Raum beherrschen, keine fruchtbare Gesellschaftsdebatte hervorwachsen wird, sondern es wird versucht, die politischen Dimensionen noch stärker zu vereinfachen, damit es der sog. "dümmste Wähler" versteht. Es gibt für einen Mündigkeitsprozeß von politisch oder kommerziell kontrollierten Medien und verbeamteter "Intelligenz" in Deutschland auch nicht allzu viel zu erwarten. Deshalb muß es Ziel sein, die Möglichkeiten des Volksentscheids für ein freies Geistesleben zu verwenden.

Zweitens muß es Ziel sein, das Primat des Politischen zu bekämpfen und mit dem Volksentscheid die Bereiche Geistes- und Wirtschaftsleben zu entpolitisieren statt zu politisieren.

Die "10%- Demokratie" des Volksentscheids kann nur ins Demokratische zurückgeholt werden, wenn sie nicht als verkrüppeltes Anhängsel des Parlamentarismus hinvegetiert, sondern wenn sie in der deutschen Gewaltenteilung integriert und zur zustimmungspflichtigen Instanz bei der allgemeinen Gesetzgebung erhoben wird. Dass dies vor allem eine quantitative Veränderung der Gesetzgebung zur Folge haben wird, ist offensichtlich. Es wäre unmöglich, die ganze Menge an Gesetzen, die den Bundestag durchlaufen, dem Volk zur Abstimmung vorzulegen - auch nicht als Gesetzbündel.

Die Gesetzgebung muß sich aber den demokratischen Grundforderungen unserer Zeit anpassen, die eindeutig nach mehr Volksdemokratie rufen. Folglich muß sich die Legislative stark einschränken, durch die Besinnung auf die Abgrenzung zwischen Legislative und Exekutive und die dreigliederische Beschränkung des Politischen durch die Selbstverwaltung des Geistes- und Wirtschaftslebens.