Verfassungspatriotismus und politische Kultur

27.10.2000

Für viele Politiker bildet Gesetzgebung die Grundlage von Kultur und Identität. Dies wird deutlich in sowohl der europäischen Integration als auch den Integrationsforderungen gegenüber Zuwanderern.

Für den CDU-Sprecher Friedrich Merz ist Anpassung an eine "freiheitlich deutsche Leitkultur" die Voraussetzung, die für Zuwanderer gestellt werden soll. Der berechtigte Aufschrei unter den Politikern angesichts dieser Äußerung hindert aber nicht Politiker der Grünen daran, indirekt die selben Vorstellungen wie Friedrich Merz zu verkünden: Für den Ausländerpolitiker Cem Özdemir heißt Integration u.a. Bekennen zur deutschen Verfassung, und die Grünen-Chefin Renate Künast prägte heute den Begriff des "europäischen Verfassungs-Patriotismus". Das entspricht in etwa der Definition von "Leitkultur", die der Göttinger Politologe Bassam Tibi schon vor zwei Jahren in einem Buch "Verordnete Fremdenliebe" gegeben und jetzt wiederholt hat. Er rechnete "die Grundrechte, eine Trennung zwischen Religion und Politik, individuelle Menschenrechte und religiösen Pluralismus" hinzu. Verfassung (sei sie geschrieben oder gewohnheitsrechtlich) nennt die Politikwissenschaft auch politische Kultur, und es scheint als würde in diesem Sinne Politik für Politiker kultur- und identitätsschöpfend sein.

Dies zeigt auch der Kampf der Politiker und Funktionäre um eine gemeinsame europäische Identität. Der "europäische Verfassungs-Patriotismus" wurde im Maastrichtvertrag mit der inhaltslosen europäischen Staatsbürgerschaft lanciert und soll jetzt mit der geplanten europäischen Grundrechte-Charta weitere Nahrung erhalten: Damit sollen gemeinsame europäische Werte, und so auch eine gemeinsame Identität geschaffen werden.

Die geplante europäische Grundrechte-Charta wurde heute auf einem Kongress des Internationalen Presse-Instituts (IPI) in Zürich kritisiert. Mehrere Redner bezeichneten dieses Vertragswerk, das beim nächsten EU-Gipfeltreffen im Dezember in Nizza verabschiedet werden soll, als überflüssig. Sie warnten vor konkurrierenden Gerichtsbarkeiten für Grund- und Menschenrechte in Europa. IPI-Präsident Hugo Bütler und der Generalsekretär des Europarates, Walter Schwimmer, schlugen vor, die EU solle als Union der Europäischen Menschenrechtskonvention beitreten. Bütler, Chefredakteur der "Neuen Zürcher Zeitung", warf die Frage auf, ob für EU-Bürger künftig zwei oberste Rechtsinstanzen - nämlich der EU-Gerichtshof und der Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte - gelten sollten. Der Österreicher Schwimmer verwies darauf, dass es gegensätzliche Entscheidungen zwischen den beiden Obergerichten geben könnte. Für den dänischen Rechtswissenschaftler Peter Germer ist es nicht angemessen, von "europäischen Werten" zu sprechen. Es gehe vielmehr um Einhaltung und Schutz der universellen Rechte.

Mag man gewisse grundrechtliche Neuerungen der europäischen Grundrechte-Charta begrüssen; der Kulturimpuls geht aber von der falschen Stelle aus, und in die falsche Richtung. Kultur soll die normative Grundlage des Rechtslebens bilden; nicht umgekehrt. Es ist auch zu hoffen, dass der gekünstelte europäische Verfassungspatriotismus, der allein der Systemlegitimierung der EU nach innen dienen soll, nicht in ein übersteigertes außenpolitisches Sendebewußtsein umschlägt.