Die Türkei zwischen UN-Konventionen und Notstandsverordnungen

15.08.2000

Die EU übt schon lange eine starke Anziehung auf die Türkei aus. Die Türkei meint es jetzt ernst, und eine Regierungskommission zum EU-Beitritt soll den Weg ebnen. Was dabei heraus kommt, bedeutet konsequenterweise eine radikale Umstellung, insbesondere im Bezug auf das freie Geistesleben: Dem türkischen Fernsehsender NTV zufolge will nun die Türkei, auf Empfehlung der Regierungskommission, zwei UN-Konventionen unterzeichnen. Die eine Konvention soll die politischen Rechte in einem Unterzeichnerstaat gewähren, die andere befaßt sich mit den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten, wobei die Konvention allen Völkern auf türkischem Staatsgebiet Selbstbestimmungsrecht, Religions- und Sprachfreiheit einräumt. Damit ist das Kurdenproblem angesprochen, das bisher immer vom Tisch gefegt wurde, mit dem Argument, dass Gewährung von Rechten gegenüber den Kurden die Einheit des Staates bedrohe.

Das Militär, als Garant der Einheit, steckt für die Politik die Rahmen ab, und so vertrugen sich bisher demokratische Gesetze parallel mit Notstandsverordnungen. Dies dürfte mit der Ratifizierung vorbei sein: Rechte sind einklagbar! Die Ironie der Sachlage: Am selben Tag wie die Verkündung der Ratifizierungsbereitschaft (15.08.2000), schloß die Ausnahmezustandsverwaltung das Büro des türkischen Menschenrechtsvereins IHD im südostanatolischen Diyarbakir. "Man kann die Entscheidungen der Ausnahmezustandsverwaltung weder kritisieren, noch sich darüber beschweren oder Einspruch einlegen", beklagte sich Eren Keskin vom IHD-Büro.

Das Militär und die politische Elite in der Türkei hat bisher streng auf die Trennung von Kirche und Staat geachtet und macht nun dem Politiker Erbakan den Prozeß wegen islamistischer Politik. Die türkische Kulturpolitik ist eine Mischung aus vereinheitlichender und kulturnegligierender Kulturpolitik aus Furcht vor dem Politisierungspotential der Kultur. Beide Tendenzen sind fatal, und führen nicht zu den Zielen, die die türkische Regierung anstrebt, nämlich die alte osmanische Trennung von Rechts- und Geistesleben. Aus Furcht vor der Macht des Geisteslebens, entschließt sich die Türkei für die Diktatur des Rechtslebens über das Geistesleben, statt zu einer sauberen Trennung, im Sinne der Dreigliederung, zu kommen.

Vielleicht wird aber einiges in Gang gesetzt durch die EU-Kandidatur. Alte Grundsätze müssen nun mit neuen Prinzipien harmonieren. Zunächst muß unweigerlich der Begriff Souveränität des Staates in allen Bereichen modifiziert werden und die Prinzipien von kultureller Freiheit mit dem Prinzip "Reinheit des Rechtslebens" harmonisiert werden. Die Türkei ist strikt gegen Gruppenrechte. Gerade deshalb könnte der Mitgliedsvertrag für die Europäische Union für die Türkei so aussehen, dass darin von individuellen kulturellen Rechten statt von Gruppenrechten die Rede sein kann. Dies würde Vorbildcharakter für ein multikulturelles Europa haben, und die Türkei würde sich und den vielen Türken, die bereits in der EU leben, einen Gefallen tun. Denn unsere türkischen Mittbürger können sehr gut individuelle kulturelle Rechte gebrauchen, da es undenkbar ist, dass sie als Minderheit z.B. in Deutschland anerkannt werden könnten.