Peter Scholl-Latour - Die Welt aus den Fugen (Rezension)

01.04.2013

Rezension zu: Peter Scholl-Latour «Die Welt aus den Fugen. Betrachtungen zu den Wirren der Gegenwart», Propyläen- Verlag, 2012.

Prof. Dr. Peter Scholl–Latour, u.a. ehemaliger ARD– Korrespondent, zeitweiliger Herausgeber des «Stern», seit 1988 freischaffender Journalist und Publizist [1], ausgewiesener Orientkenner und «Weltpolitikdeuter», beliebter Talkshow–Gast und konzilianter Erzähler mit Wohnsitz in Deutschland und Frankreich hat am Ende eines erfahrungsreichen Journalistenlebens sein Resümee der gegenwärtigen Weltlage vorgelegt. Es darf schon anfangs erwähnt werden, dass es wenig erfreulich ausgefallen ist. «Die Welt ist wirklich aus den Fugen geraten, seit die verschwommenen Konturen einer Multipolarität >sui generis< sich von Tag zu Tag verändern und vielerorts überlagern.» [2] Der im Buch hervortretende apokalyptische Duktus der Darstellung einer Welt, die aus den Fugen geraten ist, scheint zunächst signifikant, denn wie ein Rufer in der Wüste lenkt er die Aufmerksamkeit der Leser auf weltpolitische «Gewitterstürme» und der Verlag lässt es sich nicht nehmen, Herrn Scholl–Latours «prophetische Urteilskraft» zu unterstreichen.

Zunächst skizziert der Autor vorwegnehmend die westliche Moderne: Themen wie Grundwerte in Europa, Niedergangserscheinungen der Demokratie, einseitiger Einfluss der Naturwissenschaft auf unser Bewusstsein, veränderte Rollenverhältnisse, Kultur-Bashing und Anmerkungen zur Wirkung des Internets werden entsprechend kritisch behandelt. Dem folgen warnende Worte über eine krisengeschüttelte veloziferische [3] Welt, in der «sich die Dinge mit unheimlicher Hast beschleunigt» zu haben scheinen. Und diese Welt werde durch «Abkehr von allen überlieferten Schablonen» immer haltloser und steuere auf den Zusammenbruch zu. Mit geradezu biblischem Klang wird dazu Neill Ferguson zitiert: «...was wäre, wenn sich der endgültige Zusammenbruch nicht über Jahrhunderte hinziehen würde, sondern eine Zivilisation plötzlich wie ein Dieb in der Nacht überfiele?» [4]

Als Leser wird man anschließend in die scheinbar privilegierte Position gebracht, zusammen mit dem Autor durch eine Art «Weltausstellung der aktuellen Zeitlage» zu spazieren und dabei die verschiedenen «Messestände» von Ländern oder Regionen der Welt zu besuchen. Und aus intellektueller Distanz deren Lage ein Urteil abzugewinnen. Nicht selten weist er darauf hin, mit namhaften Persönlichkeiten aus Gesellschaft und Politik bekannt zu sein und rund 90 Länder dieser Erde besucht zu haben. Und zwar so, dass der Eindruck des Unmittelbaren entsteht, ähnlich dem Habitus eines Naturwissenschaftlers, welcher seinem Gegenstand aus der Beobachtung heraus ein Naturgesetz entlehnt.
So erfährt man in den meisten Kapiteln des Buches etwas über Macht oder Hilflosigkeit verschiedener Staaten im Zusammenhang globaler Ressourcen- und Verteilungskämpfe. Ein geopolitisches Interessengeflecht wächst vor dem Leser – so scheint es - wie eine Dornenhecke in den Himmel. Die verschiedenen Grundbedingungen der Politik der jeweiligen Länder erläutert Herr Scholl-Latour dann, untermauert von enzyklopädischem Wissen, bereitwillig. Die Erläuterungen beginnen mit Ulan Bator in der Mongolei und enden am Schluss mit Afghanistan. Interviews und Aufsätze von 2007 bis 2012, in denen geschichtliche Entwicklungen teilweise vorausgesagt werden, sind im Buch zusammenmontiert. Auf ein paar Weltregionen möchte ich mich in dieser Rezension des Platzes halber beschränken: Europa, die U.S.A. Und China.

«Die ungeheure Dynamik Chinas, seine kommerzielle Präsens, ja Dominanz in allen Erdteilen, die ungezügelten Ambitionen dieser gigantischen Nation geben der übrigen Welt manches Rätsel auf.» [5]
Am Beispiel der Megametropole Chongqing sei eine wesentliche Entwicklungstendenz Chinas deutlich gemacht: In einer steuerlich begünstigten Region gelegen, ist durch Eingemeindung ein industrieller Städtekomplex mit ca. 30 Millionen Einwohnern entstanden. Während noch zur Zeit der sogenannten Kulturrevolution besonders rücksichtslos mit den Menschen in Chongqing umgegangen wurde, noch 1980 alles im Einerlei von blauer Uniform, Pflicht und Einheitsstaat aufging, jedoch erste Versuche neuer Handelsformen durch den Gouverneur Zhao Ziyang unternommen wurden, übt man sich heute im amerikanischen Lebensstil und flaniert müßig durch die hochgebauten Shopping-Malls. Dem Überflussangebot der Geschäfte ist die gigantische Mao-Statue im Stadtbild gewichen. «Die gleißenden Lichter der Riesenmetropole sind ein Symbol für die hemmungslose Sucht nach Gewinn und Bereicherung, die weite Teile der Bevölkerung erfasst hat.» [6], kommentiert der Autor. In den Häuserschluchten finden sich noch «ein paar winzige Relikte der alten Elendsviertel (…) und die Bewohner dieser Ruinen klammern sich mit seltsamer Nostalgie an die Überreste ihrer einstigen Misere.» [7] Auf dem Land – achtzig Prozent der Chinesen sind Bauern – herrscht jedoch auch große materielle Armut.

Chongqing (Bildquelle: Oliver Ren, Wikipedia)

China wird zunächst einmal in ein anderes Licht gerückt als in unseren Medien üblich, d.h. es in die Kategorie der Zwangssysteme einzugliedern und dem westlichen Parlamentarismus dual gegenüberzustellen. Richtiger sei es, den Erfolg dieses Staates durch Modernisierung, Technisierung und allmähliche Wohlstandssteigerung anzuerkennen. «Gewiss, in Peking gebärdet sich die kommunistische Partei als gebieterische, alles kontrollierende, aber auch alles dynamisierende Führungskraft. (…) Das strahlende Vorbild der Mehrparteiendemokratie, das der Westen der übrigen Welt als Rezept für Fortschritt und Wohlergehen entgegenhält, hat leider viel von seinem Glanz eingebüßt...» [8] Nordamerika blicke zudem mit Sorge auf die militärische Erstarkung Chinas und lässt deshalb «demonstrativ das gewaltige Flottenaufgebot der US-Navy im Westpazifik und im südchinesischen Meer kreuzen.» [9]
Eine Hauptthese des Autors ist, dass das 19. Jahrhundert das Zeitalter Großbritanniens war und die amerikanische Machtentfaltung das 20. Jahrhundert prägte. Nun könnte das 21. Jahrhundert – zumindest in seiner zweiten Hälfte – der Volksrepublik China eine überlegene Rolle zuweisen.

Amerika: Sowohl Bewunderer als auch Kritiker der U.S.A. sollten sich nach Ansicht des Autors in einem einig sein, dass von einem amerikanischen globalen Herrschaftsmonopol nicht mehr die Rede sein kann. In militärischer Hinsicht kann festgestellt werden: «Das Imperium Washingtons stößt wie alle ermattenden Giganten an die Grenzen seiner Möglichkeiten.» [10] Ohne einen Prestigeverlust erleiden zu wollen, bemühe man sich in Washington, die Truppenpräsenz in Afghanistan nach und nach abzubauen. Amerika habe zwar die Blamage von Vietnam überlebt, doch der ökonomische Niedergang könnte sich negativer auswirken als die Unfähigkeit, sich gegen die Tücken des asymmetrischen Krieges zu behaupten. Nach wie vor ist die U.S.A. eine Wirtschaftskraft und hat eine führende Rolle durch die Wall-Street inne, jedoch sprechen inzwischen sogar Ratingagenturen wie «Standard & Poors» davon, die Kreditwürdigkeit (Bonität) herunterzustufen. Zudem haben Chinesen Staatsanleihen in Höhe von ca. 1,2 Billionen Dollar aufgekauft und die USA sind dementsprechend bei China verschuldet.
Barack Obama erscheine als anfangs noch dynamisch auftretender Staatschef schon jetzt «wie ein Gefangener jenes militärisch-industriellen Komplexes, gegen den sogar der siegreiche US-Oberbefehlshaber des Zweiten Weltkrieges, Dwight D. Eisenhower, nach seiner Wahl zum Präsidenten im Jahr 1952 zu Felde ziehen wollte. Gewiss, Barack Obama ist nicht verantwortlich für die ungeheure Finanzvergeudung, die mit dem amerikanischen Anspruch auf strategische Dominanz in einer multipolaren Welt einhergeht. (…) Der Verdacht stellt sich ein, dass die maßlose Geldverschwendung der Rüstungsindustrie vor allem einer exklusiven Schicht der Finanzhaie und Spekulanten zugute kommt...» [11] Man mag in Washington und an der Wallstreet auch über die E.U. und die Verhältnisse in der Euro-Zone spotten, «im Grunde wäre der Zustand Amerikas mit dem Griechenlands zu vergleichen, wenn man in den USA nicht über die Möglichkeit verfügte, ständig neue Dollar-Milliarden zu drucken. In Peking könnte eines Tages der Stab gebrochen werden über eine immer noch weitverbreitete Überzeugung, das Schicksal der Märkte werde in New York entschieden. Immerhin hat Obama eingesehen, dass er den chinesischen Koloss nicht frontal angehen kann. So versucht er, die eigene Serie von Pleiten und Insolvenzen auf die Europäer abzuwälzen und diese zu infizieren. (…) An dieser Stelle soll daran erinnert werden, dass die Finanzkrise von 2008 durch die Betrügereien der Bank Lehman Brothers ausgelöst wurde. Bedenkt man im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, dass das verschuldete Griechenland den Hafen Piräus für dreissig Jahre an China verpachtet hat und auch andere Staaten der Euro-Zone auf die Idee kommen könnten, in Peking jene Milliardenkredite zu suchen, die dort im Überfluss gehortet sind?» [12]

Europa: Für ausgemacht hält der Autor auch, dass in der Geschichte der letzten Jahrhunderte die weiße Vorherrschaft nicht nur im kolonialen Sinne, sondern auch im geistigen und wirtschaftlichen Sinne zu Ende ist und Europa auf seine geografische Dimension reduziert werde. Auf der Suche nach äußerem Wohlstand drängen dennoch außereuropäische Völker in die Festung Europa und so mancher Staat bemüht sich, der Nord-Süd-Migration durch Geldzahlungen an afrikanische Länder Einhalt zu gebieten. Jedoch scheint dies wenig gelungen: «Die Insel Lampedusa, die von Nordafrika durch eine Meerenge getrennt ist, platzt aus allen Nähten, seit sich dort die Zuwanderer aus dem Maghreb drängen. Dass so mancher dieser Unglückseligen bei seinem Versuch, dem heimischen Elend zu entrinnen und in Westeuropa ein Trugbild von Wohlstand zu finden, auf gestohlenen Fischerbooten den Tod findet, wird offenbar als normales Risiko in Kauf genommen.» [13] Skrupellose Schlepperbanden machen leichte Beute mit der hoffnungsvollen Bevölkerung der Sahara-Region. Nun überlegen auch EU- Funktionäre mit finanziellen, fälschlicherweise als Hilfsprogramme bezeichnete Maßnahmen, Menschen der Sahelzone durch bescheidene Auskommen an ihr Land zu binden.
In den Kindheitserinnerungen des Autors sieht die Weltkarte noch anders aus; die Welt war von Europa beherrscht, das britische Imperium bildete eine riesige Fläche , ebenso wie das LEmpire colonial français und die weitläufige Sowjetunion – nach dem Großmachtstreben vieler Länder über etliche Jahrhunderte und einem 20. Jahrhundert mit seiner Ost-West-Politik stünde ein neuer kalter Krieg, abzulesen in dem Verhalten europäischer Staaten gegenüber Russland, in Aussicht.
Die europäischen Länder, insbesondere Deutschland seien einer folgenschweren Desinformation durch die Medien ausgesetzt, was fremde Länder bzw. deren kulturell-politische Verhältnisse angeht. Das beträfe z.B. Afghanistan, Syrien, allgemein den Orient, aber auch Afrika, China und die ehemaligen Sowjetstaaten bis hin zur Kaukasusregion. Und innerhalb der Politik sei eine große Ahnungslosigkeit deutlich. Übrig bleibe die Kriegslust:»Wir werden im Moment von Kriegslustigen regiert, die zudem von nichts Ahnung haben.» [14]

Mit Rücksicht auf ein Zitat des französischen Schriftstellers André Malraux, d.h. dessen Prognose, das «21. Jahrhundert wird religiös sein oder es wird nicht sein», bescheinigt der Autor den Europäern kulturelle Hilflosigkeit; dagegen stünde Russlands Rückkehr zur Orthodoxie, in Amerika könnte ohne die evangelikalen Gemeinden keine Präsidentenwahl stattfinden, China wende sich stärker dem Konfuzianismus zu und der Islam wüchse zu einer gewaltigen religiösen Kraft an. Europa stehe diesen Entwicklungen eben ohne «Jenseitigkeit» (Mythos) orientierungslos gegenüber … irgendwo zwischen Genusssucht und Götzenanbetung. (Die globalen kulturell-religiösen Gegensätze seien - mit einem Wink auf den Stimmungsmacher Samuel Huntington - auf eine unausweichliche Konfrontation («Clash») ausgerichtet.)
An dieser Stelle tritt Herrn Scholl-Latours Kantianismus deutlich zu Tage: Ohne Glaube an ein Jenseitiges (und was damit alles zusammenhängen kann) seien wir Europäer hilflos angesichts der aktuellen Weltlage. Und eine Denkkonsequenz daraus müsste sein, dass Menschen ohne Glauben nicht in der Lage wären, aus den bestehenden Verhältnissen etwas Fruchtbares zu entwickeln.

Was dementsprechend als Behauptung bleibt, ist, dass politisch-wirtschaftliche und kulturelle Weltprobleme ausschließlich unter Zuhilfenahme von Religion «gelöst» werden könnten. Eine aus einer Fähigkeitenkultur entspringende, d.h. aus rein zivilgesellschaftlichen Verhältnissen hervorgehende Handlungsfähigkeit wird insoweit verleugnet, dass der Zivilgesellschaft bescheinigt wird, nicht in sich selbst die moralische Vitalität und Bewusstseinskraft finden zu können, welche dazu nötig ist. Dem Menschen werden quasi nur zwei Dinge zugestanden: Wahrnehmungs- und Reflexionsfähigkeit kleinerer und großer Weltverhältnisse. Eine zweite Denkkonsequenz des Buches müsste also sein: Eine selbstbestimmt denkende Zivilgesellschaft – welche aus dem ethischen Individualismus heraus sich ihre Richtung gibt – kann der Autor nicht anerkennen. Und weil er sie nicht anerkennt, kann er auch nicht deren aus dem Geist stammendes Potential wertschätzen und dieser frei gebildeten, frei zu bildenden Menschengesellschaft ihren berechtigten Platz bei der Gestaltung der Gegenwart einräumen. Der Unglaube an die Handlungsfähigkeit unserer Mitmenschen wird m.E. durch solche Bücher verstärkt. Im Zusammenhang mit Erläuterungen zur Entwicklung des sozialen Organismus konnte Rudolf Steiner auch feststellen: «Den meisten Menschen fehlt heute noch der Glaube an die Möglichkeit, von den Einzelwillen aus eine sozial befriedigende Gesellschaftsordnung zu begründen. Dieser Glaube fehlt, weil er aus einem Geistesleben nicht erstehen kann, das aus dem Wirtschafts- und dem Staatsleben heraus in Abhängigkeit sich entwickelt hat. (…) Zur sozialen Neugestaltung gehört nicht nur ein guter Wille, sondern auch der Mut, welcher dem Unglauben an die Kraft des Geistes sich entgegenstellt.» [15]

Sascha Scholz, Heidenheim an der Brenz, April 2013

Anmerkungen

[1] u.a. Eine Welt in Auflösung – Vor den Trümmern der neuen Friedensordnung.1993., Der Fluch des neuen Jahrtausends – Eine Bilanz. 2002, Der Weg in den neuen Kalten Krieg, 2008.

[2] Peter Scholl- Latour, Die Welt aus den Fugen. 2012., S.55.

[3] "Für das größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden lässt, muss ich halten, dass man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist, und so springts von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich und zuletzt von Weltteil zu Weltteil. Alles ist veloziferisch." Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke, Band 41, Propyläen-Verlag, S.366.

[4] Neill Ferguson («The West and the Rest», 2011.) bezieht sich dabei auch auf die ihm fragwürdig erscheinende Führungskraft - «decline and fall» - der USA. Auch wenn sich Herr Scholl–Latour bezüglich der Einschätzung der USA nicht der These Fergusons anschliesst, so tut er dies umso deutlicher, wenn es um die anderen westlich- europäischen Entwicklungen geht. Abseits solcher Untergangsdebatten ist gerade ein m. E. empfehlenswertes Buch von einem Freund, Jens Göken, erschienen: «Auferstehen inmitten von Untergängen. Eine symptomatische Betrachtung zum Jahr 1912.»

[5] Peter Scholl- Latour, Die Welt aus den Fugen., 2012, S.243.

[6] Ebd. S. 241.

[7] Ebd. S. 240.

[8] Ebd. S. 203.

[9] Ebd. S. 242.

[10] Ebd. S. 204.

[11] Ebd. S. 294.

[12] Ebd. S. 295.

[13] Ebd. S. 262.

[14] Ebd. S. 385.

[15] Rudolf Steiner, Geistesleben, Rechtsordnung, Wirtschaft, Zeitschrift: Soziale Zukunft, 1919 , Heft 3.


(erstveröffentlicht in «Das Goetheanum» Nr.18 /2013 in gekürzter Fassung)