Der Kapitalist als Schuldner

Karl Ballmers Liebe zu der sich als sozialen Organismus erschaffenden Menschheit

Beitrag auf dem Karl Ballmer-Symposion in Berlin vom 22. – 24. Februar 2013 zur Einweihung des Karl-Ballmer-Saals (Sinnewerk gGmbH, Liegnitzer Str. 15, 10999 Berlin)

Dem sozialwissenschaftlich produktiven Können des Malers und Philosophen Karl Ballmer begegnete ich anfangs der siebziger Jahre des 20. Jhd. in Berlin mehr zufällig in seinen Texten „Der Kapitalist als Schuldner“ (5 Aufsätze 1953 für die „Berner Tagwacht"), „Eine Konzeption des Kapitalismus“ (1946), „Eure Wiedervereinigung, Brief nach Deutschland“ (1956) und „Die Aktie, Symbol der Schande“ (1957) – im Antiquariat des Bücher-Kabinetts [1]. Sie erwiesen sich für mich als „Lesehilfen“ (Cuno) für Steiners „Nationalökonomischen Kurs“ und seine „Kernpunkte der soziale Frage", die ich damals kaum verstand bzw. mit eigenen Beobachtungen verbinden konnte. Sie sind in diagnostischer und politischer Genauigkeit von beklemmender Aktualität. Diese Aufsätze enthalten illusionslose Charakterisierungen von Zeitgeschehnissen, die sich Ballmer zum Erlebnis bringt durch Steiners aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis geschöpften sozialen Axiome. Und es sind schonungslose Abrechnungen mit den Verbrämungen dieser Gesetze durch Gedankenlosigkeit, Phraseologie und Voreingenommenheit. Das liest sich 1956 – und damit 33 Jahre vor dem Mauerfall – im Brief nach Deutschland (von Lamone aus) so:

„Eure Wiedervereinigung ist im gleichen Grade utopisch wie die Wiedervereinigung der evangelischen und der katholischen Kirche. Die kommt nie, weil Rom-Bonn darunter die Befreiung von Verirrten und deren Rückführung nach alleinseligmachend Rom-Bonn versteht.“

So wie die Wiedervereinigung der beiden Kirchen die radikale Destruktion der beiden geistigen Organisationen (durch den gegenwärtigen „Christus“) voraussetze, so die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten die Destruktion des östlichen wie des westlichen Satellitentums, wobei man sich unter Destruktion „mehr geistige als politischen Taten vorzustellen“ habe. Die deutsche Wiedervereinigung könne nichts anderes sein als der den deutschen vom Weltgeist abgeforderte Beitrag zur Lösung der „Sozialen Frage".

Wie sehen die geistigen Taten dieser Destruktion aus? Ballmer führt seinen Leser hinein in die Selbstbegegnung des zeitgeschichtlichen Momentes mit geisteswissenschaftlichen Gesetzen, die durch Steiners Geistart erlebbar werden.

„Ich habe die Unbefangenheit, mich missliebig zu machen, in dem ich hier den Namen des Mannes hinschreibe, der deutliche Vorstellungen hat über die den Deutschen vom Weltgeist abverlangten Aktion zur Lösung der Sozialen Frage. Ich traue den intelligenten Russen zu, daß sie teilnehmend aufhorchen, wenn ihnen rational auseinandergesetzt wird, was Rudolf Steiner unter Vergesellschaftung der Produktionsmittel versteht.“

Ballmer bespricht also mitten im kalten Krieg der deutschen Teilstaaten und der Ideologien den Kern des Gegensatzes der „heuchlerischen“ Sozialen Marktwirtschaft und die vom dialektischen Materialismus propagierte „Vergesellschaftung der Produktionsmittel“ durch den Staat: Ein militanter Gegensatz, der doch beiderseits den Geistcharakter des Kapitals negiert. Die von den Entwicklungskräften der Menschheit geforderte Neugestaltung, wie sie Steiner 1919 in seiner Schrift „Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft“ offenbart, zeigt die Produktionsmittel (durch kauflose, d.h. schenkweise Übertragung) als zirkulierend im Fluß der Fähigkeiten zum Wohle des Ganzen. Ballmer:

„Die Welt sollte jetzt den Ernst zur Kenntnis nehmen, mit dem die Soziale Frage in Mitteleuropa auf dem anthroposophischen Felde behandelt wird. Es bedeutet eine populäre Verflachung und den Verderb der Sozialen Frage, wenn man als ihren Inhalt nur die Auflehnung gegen das private Eigentum an den Produktionsmitteln sieht. Eine Sozialisierung der Produktionsmittel, des Kapitals, im Sinne der Soziologie Rudolf Steiners hat die Tat der Unternehmer zu sein, indem diese sich der Einsicht verpflichten und die entsprechenden Einrichtungen treffen, dass Kapital dem fähigen Produzenten zur persönlichen Verfügung stehen muss, und dass die Verfügungsberechtigung aufhört bei Nichtbetätigung oder Nichtbefähigung des Unternehmers – mit den entsprechenden Konsequenzen hinsichtlich des Erbrechts.“ Und weiter: „Rudolf Steiners Sozialisierung der Produktionsmittel ist eine Apologie des rehabilitierten Kapitalismus [...] Kapital ist konzentrierter Geist. Der Weltgeist benötigt das Dasein von Kapital als das Einfallstor für sein Wirken als Herr der Geschichte.“

Dagegen könnte man einwenden, dass die Wiedervereinigung doch 1989/90 gekommen sei. Sie ist aber als Lüge gekommen, als Phrase und Börsennotierung, als machtpoltische Erweiterung des 1949 mit amerikanischer Nachhilfe entstandenen Rom-Bonn, eine klammheimliche Restauration unter Ausblendung der Lebensfragen wie der sozialer Verfügungsmacht über Grund und Boden und die produzierten Produktionsmittel, einer Ausblendung, die zum Weltgegensatz Ost-West und zur Spaltung Mitteleuropas geführt hat. Und als eine zur „Wiedervereinigung“ hochstilisierten Staatenfusion unter westlicher Hegemonie, die auch den vorgeschriebenen Auftrag des provisorischen Grundgesetzes (GG 126), dass sich das deutsche Volk in einer solchen geschichtlichen Situation eine neue Verfassung schaffe, negiert. Stattdessen wurde der „Beitritt“ der DDR zum „Königsweg“ umgelogen.

Die Geistwirksamkeit als soziale Intelligenz betätige sich, so Ballmer, im unterschiedlichen Empfinden der „Menschenleute“ in der aus drei Quellen gespeisten sozialen Wirklichkeit: Individuelle Fähigkeiten und ihre freie Entwicklung, die prinzipielle Gleichheit der Rechte, und als dritte Quelle das Bedürfnis, das aus den Naturgrundlagen des körperlichen (und seelischen) Daseins der Menschen kommt, und im Kreislauf des Wirtschaftslebens durch Produktion, Zirkulation und Konsumtion Befriedigung finden muß. Erst aus dem Empfinden des Besonderen und Unterschiedlichen der drei Quellen können wir auch dahin kommen, vernünftig „über die Einheit denken zu lernen, als die sich der dreigegliederte soziale Gesamtorganismus aus dem Zusammenspiel der unterschiedlichen Kräfte zu ergeben hat.“ [2]

1946, zehn Jahre vor diesem Brief zur heuchlerischen Wiedervereinigungsdebatte, also zu einem Zeitpunkt der sich erst anbahnenden Blockbildung in Mitteleuropa geht er in „Eine Konzeption des Kapitalismus“ [2] methodisch scharf mit der unsauberen Begriffsbildung der Kapitalfrage gegenüber im öffentlichen Bewußtsein ins Gericht. Aus den vorherrschenden Doktrinen und der politischen Praxis lasse sich kein tauglicher Kapitalbegriff gewinnen. Stattdessen knüpft er an Steiners Methodik des Nationalökonomischen Kurs von 1922 an und zeigt, was „Destruktion“ mit geistigen Mitteln sein kann. Ballmer: "Der erste Kapitalist ist einfach intelligent. Ich bin dem ersten Kapitalisten bei einem wenig gewürdigten Nationalökonomen begegnet.“ [3] Ballmer meint das Bild des Kapitalisten, welches Rudolf Steiner im vierten Kapitel des „Nationalökonomischen Kurses“ gibt. Dort erläutert Steiner das Prinzip der Kapitalbildung an einem einfachen Beispiel:

„Nehmen wir einmal an, in einer Gegend hätte eine Anzahl von Menschen eine bestimmte Tätigkeit verrichtet, indem eine Anzahl von Menschen einen Gang verrichtet hätten von ihren Häusern, also sagen wir von verschiedenen Ortschaften zu einer gemeinsamen Arbeitsstätte, zu einer Förderungsstätte von irgendwelchen Naturprodukten. Nehmen wir an, wir wären noch in einer primitiven Zeit, es gäbe noch kein anderes Mittel, als dass die Arbeiter, um zu der Stätte zu kommen, wo sie die Natur bearbeiten, zu Fuß gehen. Nun kommt einer darauf, einen Wagen zu bauen und Pferde zu benützen, um den Wagen zu ziehen. Da wird dasjenige, was zuerst allein verrichtet werden musste von jedem, das wird nun verrichtet im Zusammenhang mit demjenigen, der den Wagen stellt. Es wird eine Arbeit geteilt. Es spielt sich dann die Sache so ab, dass ein jeglicher, der den Wagen benutzt, nun an den Wagenunternehmer eine bestimmte Quote zu bezahlen hat. Damit ist derjenige, der den Wagen erfunden hat, in die Kategorie des Kapitalisten eingetaucht. Der Wagen ist für den betreffenden Menschen jetzt richtiges Kapital. Sie werden, wo Sie suchen wollen, immer sehen, dass gewissermaßen der Entstehungsprozess des Kapitals immer in der Arbeitsteilung, Arbeitsgliederung liegt. Aber wodurch ist der Wagen erfunden worden? Er ist eben durch den Geist erfunden worden.“
Rudolf Steiner,  [4]

Ballmer weist nun nach, daß von dem neuen Axiom „der Kapitalist ist wesentlich intelligent“ eine Belebung der Doktrinen der Volkswirtschaftslehre ausgehen müsse. Die Relevanz der geistigen Erfindung des „ersten Kapitalisten“ liege nicht darin, dass sie persönliche Intelligenz ist, sondern dass die persönliche Intelligenz volkswirtschaftlich wirksam ist, wobei die „Quote", der Erwerb, den der Wagenunternehmer von den Mitfahrenden erhält, ein Nebeneffekt aus diesem Vorgang der Arbeitsteilung ist. Die alleinige Frage nach dem Erwerbenden verdecke die volkswirtschaftliche Relevanz der geistigen Schöpfertätigkeit, und die einheitlich bürgerlich-sozialistische Grundauffassung, wirtschaftliches Handeln sei in jedem Falle „Arbeit auf Erwerb", verhindere die Verdichtung der Nationalökonomie zu einer Geisteswissenschaft. Ballmer:

„Die Verstehens-Aufgabe einer Nationalökonomie als Geisteswissenschaft hat aber das Vorurteil des Unternehmers er sei nur Erwerbender, zu durchleuchten und hat sein Schaffen unter dem Gesichtspunkt des schöpferischen Wirkens einer verstehbaren, einheitlichen Übernatur zu bringen. Denn die Welt, mit der es die Nationalökonomie zu tun hat, ist allerdings keine solche des bloßen Seins, sondern des Schaffens.“ [5]

Der Ur-Sinn des Kapitals sei persönlich wirkende schöpferische Welt-Intelligenz, in einem Prozeß, zu dessen mannigfachen Organen die Handlung aus volkswirtschaftlicher Intelligenz zähle. Das fordere ein Weltbild, das den Menschen als Schaffenden, als Mitschaffenden am Sinn der gottgewollten Welt zuläßt. Und das fordere eine Nationalökonomie, die die Wirtschaftswelt als Übernatur erkennt, in der es keine Weltgesetze gibt, die nicht zugleich und zuerst menschliche intelligente Handlungen sind:

„Auf einem gewissen Niveau des geistigen Weltverständnisses hört jener beruhigende Zustand auf, der unter dem Welterkennen eine adäquatio des menschlichen Intellektes an eine vorgegebene Wahrheit verstehen möchte. Auf einem gewissen Niveau tritt der beunruhigende Zustand ein, dass soviel – und nicht mehr – erkannt wird als gewollt und gehandelt wird.“ [6]

Karl Ballmer will aber nicht beunruhigen, sondern einem „überparteilichen Gespräch“ dienen. Das erfordert das Eingeständnis, daß der Sinn von Kapital gar nicht durch bloß theoretische Wahrheit dualistisch festzuhalten ist.

In dem „zweckbedingten“ Aufsatz „Der Kapitalist als Schuldner“ erhellt Ballmer erneut die volkswirtschaftliche Intelligenz des Kapitals und die daraus resultierende Tatsache, daß der Kapitalist Schuldner und nicht Eigentümer wird. Auch hierbei geht Ballmer von dem Gehalt des Begriffsbildes des „Ersten Kapitalisten“ aus dem Nationalökonomischen Kurs (s.o.) aus. Aus diesem Bilde geht hervor, daß zwischen dem Wagenunternehmer und den zuvor zum Arbeitsplatz marschierenden Arbeitern eine Teilung der zur Ortsveränderung nötigen Anstrengung eintritt, daß Entstehung von Kapital und Arbeitsteilung also zusammenhängen.

„Kapital, so kann man kurz und bündig sagen, ist wesentlich Intelligenz. Doch geht aus dem Bilde des Ersten Kapitalisten hervor, dass es sich um soziale, um volkswirtschaftliche Intelligenz handelt. Es gibt sozialen Geist.“ [7]

Die welthaft-volkswirtschaftliche Intelligenz schwebe nicht als „Geist“ in der blauen Luft, sondern manifestiere sich durch einen befähigten Einzelnen. Es sei ein „verheerendes“ Mißverständnis, die Erfindung des Wagens (im Beispiel des ersten Kapitalisten) begründe ein Eigentum am Wagenkapital und damit den Kapitalisten als ausschließlich Erwerbenden. Ballmer:

„Ist es nicht längst an der Zeit, unter Intelligenz und Kapital grundsätzlich nicht Eigentum sondern Schuld zu verstehen?“ [8]

Aber „wir edlen Europäer sind immer noch römisch behindert“, wodurch Kapital immer noch nicht Schuld sein kann, sondern immer noch „Eigentum“ sein muß. Das Schlagwort vom „Privateigentum an den Produktionsmitteln“ sei „dumm“ geworden und verhindere in der längst bestehenden Schuld-Wirtschaft (Kreditwirtschaft) die Aufgabe, den juristischen Besitz von Kapital und die Benützung von Kapital durch Befähigte als zwei verschiedene Angelegenheiten zu gestalten. Ein „verheerender“ Irrtum mit „verheerenden“ Folgen: Unbegrenzte Kapitalvermehrung und Produzieren um des Produzierenwillens als Wirtschaftsziele und damit Soziales Karzinom. Denn „es ist durchaus möglich, daß im Leben Vorgänge nicht nur in einem falschen Sinne erklärt werden, sondern daß sie sich in einem falschen Sinne vollziehen.“ [9]

Die Leidenschaft und unerbittliche Genauigkeit hinsichtlich der Kapitalfrage, mit der Ballmer Anfang und Mitte der fünfziger Jahre den gesellschaftliche Neugestaltung in den beiden Deutschlands kommentiert, mag damals befremdet haben. Heute kann uns sein genauer und methodischer Blick zum Ariadnefaden einer Entwirrung des entstandenen sozialökonomischen, fiskalischen sowie währungs- und renditepolitischen Tohuwabohus im öffentlichen Raum werden. [10] Wir können diese sozialökonomischen Zusammenhänge neu und anders denken, damit wir zu sozial produktiven Handlungen kommen.

In dem undatierten Aufsatz „Die erste Mitteilung über die soziale Dreigliederung“ [1], dem Inhalte nach ebenfalls Mitte der fünfziger Jahre verfaßt, geht Ballmer davon aus, daß Steiners Idee des dreigliedrigen sozialen Organismus nur nebulos oder gänzlich unbekannt ist und die „Soziale Frage“ im Bewußtsein der Zeitgenossen der „Wirtschaftswunderwelt“ gar nicht mehr existiert, stattdessen das Gerede von „sozialer Marktwirtschaft“ und „Mitbestimmung“ sich breit mache. Ballmer:

„Rudolf Steiner hat die Idee des gegliederten Gesellschaftskörper nicht im luftleeren Raum geschaffen, sondern inmitten der Geschichte, in verantwortlicher Teilnahme am zeitgeschichtlichen Geschehen.“

Er erinnert an Roman Boos mutige Publikation „Rudolf Steiner während der Zeit des ersten Weltkrieges“ (1933), die u.a. die Memoranden enthält, in denen Steiner 1917 erstmals Grundzüge der Idee der Dreigliederung niederschreibt, um sie an hochrangige Regierungsvertreter heranzubringen. Dieses Dokument wirke heute „erschütternd“, denn während „es heute öffentliches Dogma ist, dass die zweigeteilte Welt aus dem edlen Westen einerseits und dem weniger edlen Osten andererseits besteht, ohne eine geistig selbständige Mitte, geht es in den Memoranden gerade um die Mitte, um die die Selbsterkenntnis ‚Mitteleuropas‘ in seiner Aufgabe gegenüber dem Westen und Osten“.

Und Ballmer weist in diesem Aufsatz auf Steiners erste Mitteilung der Dreigliederung an die Anthroposophenschaft am 24. Nov. 1918 in Dornach hin, [11] in der Steiner entwickelt, wie zu unterscheiden sind drei Glieder in dem, was Menschen als gemeinschaftliches Leben führen: Sicherheitsdienst (Gleichheit), unabhängig davon Wirtschaftsgestaltung (Brüderlichkeit) und geistiges Leben (Freiheit). Ohne diese Unterscheidung werde keine Vorwärtsentwicklung von der Gegenwart in die Zukunft möglich sein.

Für Karl Ballmer läßt sich das Hineinfinden in die Geisteswissenschaft Steiners gar nicht trennen von der gleichzeitigen Vergegenwärtigung der Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus. Das zeigt er nicht nur in seinen zahllosen Stellungsnahmen, Ausarbeitungen, Einmischungen zur Sozialen Frage bis zu seinem Tode 1958, sondern bereits in seinen berühmten „drei Vorträgen über Kunst“ während des Hochschulkurses 1920 im Ersten Goetheanum:

„Der Künstler, der sich seiner Produktion über sein Individuelles erheben, der sich als Menschheit fühlen möchte, sieht sich zunächst vor scheinbar unüberwindlichen Schranken [...] die Aussichten für die Gestaltung des Menschen aus dem Kräftewesen der Menschheit sind ihm zunächst völlig verschlossen [...] Auf ganz unerwartete Weise tritt dagegen der Künstler an ganz konkrete Vorstellungen über das Wesen der Menschheit als eines einheitlich schaffenden Ganzen heran. Als sozialen Impuls zur Dreigliederung des Sozialismus: in unerhörter Weise frappiert muss der Künstler erkennen, wie da der Lebensprozess der Menschheit als ein einheitlicher lebendiger Organismus in Vorstellungen einem entgegentritt, die ganz aus dem Vorstellungsvermögen des modernen naturwissenschaftlich denkenden Menschen geschöpft sind. Inmitten dieses sozialen Wesens, das wie ein grosses Lebewesen erscheint, bewegt sich frei als ein Geistiger, in der geistigen Welt verankert, der Mensch innerhalb der Wirklichkeit“. [12]

Im ideellen Erleben des Ganzen der Menschheit kann sich der Einzelne neu gebären. So widerfährt es Ballmer selbst, und er nimmt dies zum Ausgangspunkt seiner eigenen jahrzehntelangen philosophisch-sozialwissenschaftlichen Schulung. Der Maler und Schriftsteller nimmt dann seine Leser und Erkenntnistaten suchenden Zeitgenossen mit hinein in den geistigen Schaffensprozeß seiner selbst und der sozialen Wirklichkeit. Bereits 1930 stellt er in zwei Aufsätzen für die „Bau-Rundschau Nr. 9 und 10“ seine Beschreibung und Begründung des ersten und zweiten „Goetheanums“ auf solch sicheren Boden:

„Mit seinem Kern, der sich im Denken als Ich bestimmt, steht der Mensch selbst als Verantwortlicher in den Dingen. Das ist das Fundament alles Schaffens und Lehrens Steiners."

Die sozialen Zielsetzungen für das Zustandekommens des „Goetheanums“ seien Ausdruck von Steiners Sozialauffassung, daß das Geistesleben volkswirtschaftlich nicht nur kein Luxus, sondern der Mutterboden ist, der die soziale Organisation nährt:

„In diesem Boden gedeihen nicht nur die wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungen, aus ihm entsprießt auch die Initiative des wirtschaftlichen Unternehmers [...] Diese anthroposophische Theorie des Kapitalismus erblickt in der freien Verfügungsmöglichkeit des Befähigten über Kapital eine unumgängliche Notwendigkeit für die gesunde Gestaltung des sozialen Organismus“ [13]

Wie auf einen Gipfel seiner erworbenen Denkbeweglichkeit, Aktualität und sozialen Diagnosefähigkeit führt uns Ballmer, ein Jahr vor seinem Ableben, in dem Aufsatz „Die Aktie, Symbol der Schande“ [1], in dem er angesichts der bundesdeutschen „Volksaktien-Vereine“ und fauler „Sozialer Marktwirtschaftsbegriffe“ das Wesen der Kreditschöpfung und der Kapitalverwaltung klarstellt. Den Zustand, dass damals das Volkswagenwerk Wolfsburg niemandem gehörte, fasst er „als freundlichen Wink des Schicksals“ auf, da es in einem gesunden sozialen Organismus den Verkauf des Volkswagenwerkes gar nicht geben kann. [14] Die Nichtung des Eigentums sei ein ernstes und zu begutachtendes Problem:

„Begriffe wie Eigentum und Lohn können in der Gegenwart eine Umwandlung erfahren. Rudolf Steiner unterscheidet Eigentum und Verwaltung des Eigentums. Zur Einrichtung einer Fabrik ist ein Kapital mit selbständiger wirtschaftlicher Kraft d.h. Geld nötig. Dieses Kapital ver-nichtet sich in dem Augenblick, in dem die Einrichtung der Fabrik abgeschlossen ist. Das Kapital gehört von diesem Augenblick an niemanden, gehört dem Nichts, gehört – Gott, und es kann im Namen Gottes nur übertragen werden auf einen solchen, der die individuelle Fähigkeit der sachgemäßen Verwaltung des Produktionsmittels besitzt.“ [15]

Erst die Nichtung des Warencharakters des Produktionsmittels bis zur Fertigstellung ermöglicht den volkswirtschaftlichen Schöpfungsakt durch das Unternehmerische. Die Aktie als „gewinnbringendes Eigentum“ und Stilmittel „unserer Wirtschaftsordnung", die als Zweck des Wirtschaftens den Profit deklariert, sei ein Symbol der Schande, weil es den Geldeigentümern erlaube, an den apokalyptischen Segnungen des sich selbst (anonym) verwaltenden Kapitals teilzunehmen und das verantwortliche Kreditverhältnis zwischen Gesellschaftern und Unternehmensleitung auf das Interesse an der Dividende reduziere. In solchem Kreditwesen wird „die Persönlichkeit zersplittert“. [16] In diesen Abgrund der Zersplitterung sind wir als Menschheit hinabgestiegen sowohl in der Kapital- wie in der Arbeitsfrage. Wir können uns gegenwärtig und künftig herausarbeiten, in dem wir durch innere Seelenerkraftung die sozialen Tatsachen geistig umspannen und uns auf uns selbst stellen lernen, ohne den anonymen Kräften zum Opfer zu fallen. Durch Ballmer wird die Denkart Steiners in der Kapitalfrage zur Entwicklungsbedingung des sozialen Lebens. Mit verwandelten Erkenntnisfähigkeiten können wir die sozialen Prozesse von Ware, Arbeit und Kapital in Verbindung mit dem Menschen, und nicht abgespalten von ihm, beschreiben und gestalten. Rudolf Steiner:

„Soziale Kunst würde darinnen bestehen: daß man das, was uns äusserlich umgibt, allmählich so umwandelt, daß es der Mensch so behandeln kann wie das, was ihm von innen aus eigen ist, wie das, was ganz aus seiner Individualität herausquillt. Dazu ist aber notwendig, daß die Menschen in ihre Gesinnung eine solche Denkweise aufnehmen, wie ich sie jetzt in ein paar abstrakten Sätzen angedeutet habe.“
Rudolf Steiner,  [17]

In Karl Ballmers Sozialerkenntnis, der Rudolf Steiner um 33 Jahre überlebte, können wir eine Art Wiedergeburt der Idee der Dreigliederung finden: durch innere Anschauung des gesamten volkswirtschaftlichen Prozesses. Er führt den schaffenden Geist des sozialen Organismus in die gegenwärtige Wirtschaftsordnung hinein sowie deren Verwandlung in Einrichtungen, in denen die Wahrheit richtiger Preise im Wirtschaftstausch, die Ablösung des Lohnverhältnisses durch Teilungsvereinbarungen zwischen Arbeitsleistern und –leitern und die Gründung eines sozialorganischen Kreditwesens auf die Kraft der Persönlichkeit leben kann. Auf seine genaue Lebensbeobachtung und seine sprachkünstlerischen Mittel trifft zu, was der Autor der Kernpunkte im Vorwort dieser Schrift seinen Lesern als methodische Wegweisung gibt:

„Es (das Leben) ist ein fliessendes Element. Und wer mit ihm gehen will, der muß sich auch in seinen Gedanken und Empfindungen diesem fließenden Grundzug anpassen. Die sozialen Aufgaben werden nur von einem solchen Denken ergriffen werden können. Aus der Beobachtung des Lebens heraus sind die Ideen dieser Schrift erkämpft; aus dieser heraus möchten sie auch verstanden werden.“
Rudolf Steiner,  [18]

Im denkenden Durchdringen von Ballmers Textarbeiten haben wir Hinweise auf unser Vermögen, die äussere Verantwortung als aus Erkenntnis Handelnde im Sozialen Zusammenleben zu bemerken und zu ergreifen.

Zur Biographie Karl Ballmers

Ballmer, der R. Steiner im Herbst 1918 in Zürich begegnet und im folgenden Jahr am Ersten Goetheanum mitarbeitet, beteiligte sich u.a. ab Sommer 1919 an der Wochenschrift „Dreigliederung des sozialen Organismus“ (Schriftleitung Ernst Uehli) mit einigen Aufsätzen („Zur schweizerischen Bundesfeier“ 1.8.1919, zu „Frauenstimmrecht und Dreigliederung in der Schweiz“ und zum „Goetheanum“ und „Der Thomismus in seiner Bedeutung für die Gegenwart“ 2/1920), bevor er Dornach den Rücken kehrt, sich in Hamburg seiner Malerei widmet und sich in den folgenden Jahren einem autodidaktisches Studium der Philosophie und Zeitgeschichte unterzieht. In seinem Aufsatz „Schweizer Freiheits-Impulse und die Dreigliederung“ zeigen sich bereits seine diagnostischen und fundierten Fähigkeiten, Zeitgeschehnisse im Lichte der Idee der Dreigliederung zu erhellen: „Wenn Schiller sein Augenmerk darauf richtete, wie der einzelne Mensch in sich seine Kräfte ausbalancieren müsse, damit er zur freien Persönlichkeit werde, so löst Steiner die andere Aufgabe, die durch die heutige Zeit gestellt wird: wie sich der freie Mensch neben andere freie Menschen sich in den sozialen Organismus einzugliedern habe.“ [19]

Wie eine reife Frucht seines jahreslangen philosophischen Studiums erscheint dann u.a. seine Arbeit „Philosophie und Besseres“ in der von Willy Storrer herausgegebenen Kulturzeitschrift Individualität Buch 3, Zürich und Leipzig 1928: „Über der Pforte zu Besserem steht der Satz Rudolf Steiners: Die Wahrheit ist ein freies Erzeugnis des individuellen Menschen. [...] Der Gehalt der modernen Individualität, die sich zu erwachen anschickt in solchen Persönlichkeiten wie Max Stirner und Nietzsche, ist ihr Impuls zur Verantwortung. Die Frage des Mutigen gegenüber dem philosophischen Erkennen kann nur dahin gehen, welche Entwicklungsmöglichkeiten das System und die Methoden der modernen Philosophie der Anlage der modernen Individualität zur autonomen Verantwortung offen lasse; und ob etwa der Begriff der Vollendung des Systems der Philosophie und die Verwirklichung solcher Entwicklungsmöglichkeiten einunddasselbe sei.“

Nach seinem Fortgang von Dornach wird Hamburg nach Umwegen sein Lebensschauplatz 1922 – 1938. Hier isoliert er sich keineswegs von der anthroposophischen Bewegung, sondern hat intensive Arbeitsbeziehungen zum Pythagoras-Zweig, Louis Werbeck u.a., so auch zu Bernhard Behrens, der später nach Nordamerika emigriert. Ballmer zeichnet ihm das äussere Erscheinungsbild von dessen Studien „Anthroposophisch orientierte Wirtschaftswissenschaft“ [20], in denen dieser in literarischer Form seine jahrelange wirtschaftswissenschaftliche Arbeit an dem von Werbeck begründeten anthroposophischen Seminar in Hamburg wiedergibt und die Aufgaben von Steiners „Nationalökonomischem Kurs“ in bis heute selten wieder erreichter Klarheit zugänglich macht und in die Weltsituation stellt. Die Hefte sind heute so gut wie verschollen, waren aber damals vermutlich eine wichtige Quelle von Ballmers sozialwissenschaftlicher Schulung.

Anmerkungen

[1] Die genannten Texte sind auch gemeinfrei unter www.menschenkunde.com abrufbar.
[2] Originaltext abrufbar unter www.menschenkunde.com. Hier zitiert nach H. Gessner, Besazio 1964.
[3] H. Gessner, Besazio 1964, S. 58.
[4] Rudolf Steiner: Nationalökonomischer Kurs, S. 54ff.
[5] a.a.O. S. 58.
[6] a.a.O. S. 68.
[7] Ballmer: Fünf Aufsätze. Besazio 1976, S. 4, abrufbar hier.
[8] a.a.O. S. 7.
[9] Rudolf Steiner: Die Kernpunkte der sozialen Frage, Kap II, Fußnote.
[10] Ebenfalls auf dem Posten waren zu dieser Zeit in Berlin die Gespräche der Berliner „Gruppe 58“ um H.G. Schweppenhäuser, die am 23.2.1963, also heute vor fünfzig Jahren, zur Gründung des „Instituts für soziale Gegenwartsfragen“ durch den Genannten sowie M.F. Manleitner, F.H. Hillringhaus, A.H.v. Arnim, H. Bleks, A. Rexroth, E. Bakke, R. Jungk u.a. führte. Die Gründung fußt ausdrücklich auf der Idee der Dreigliederung (1919) durch R. Steiner. Die erste Publikation des Instituts war bezeichnenderweise: „Das Eigentum an den Produktionsmitteln", Vorwort von Folkert Wilken. Berlin 1963.
[11] Später abgedruckt in „Entwicklungsgeschichtliche Unterlagen zur Bildung eines sozialen Urteils", GA 185a.
[12] Ballmer: Drei Vorträge über Kunst, Besazio 1973, S. 9-10.
[13] Ballmer: Das Goetheanum R. Steiners. Besazio, 2. Aufl, 2002, S.18, 24 und 26.
[14] Siehe hierzu auch die in [9] genannte erste Institutsschrift Schweppenhäusers, in der er ebenfalls von dieser historischen Tatsache ausgeht, um eine neue Eigentumsrechtssubstanz zu entwickeln.
[15] Ballmer: Aktie, Besazio 1976, S. 7, abrufbar hier.
[16] Siehe auch Steiners Apokalypse-Vortrag am 24.5.1908 in Nürnberg.
[17] Rudolf Steiner: Wie wirkt man für den Impuls der Dreigliederung des sozialen Organismus? Vortrag vom 25.2.1921, Stuttgart.
[18] Rudolf Steiner: Die Kernpunkte der sozialen Frage. Vorwort zum 41.bis 80. Tausend, Stuttgart 1920, S. 22.
[19] Dreigliederung des sozialen Organismus, 1. Jg. Heft 5, August 1919.
[20] Bernhard Behrens u.a.: 7 Hefte im Verlag für Wirtschaftskunde Hamburg 1930/31.