Standarddeutsch und Sprachfreiheit

01.07.2012

Zu den Forderungen der Dreigliederung nach Freiheit im Geistesleben gehört auch die nach der freien Ausübung und Lehre der Sprache. Die Festlegung des Standarddeutschen wird heute von der Politik gefordert und die entsprechenden Organe durch sie eingesetzt. Wie folgende Anekdote zeigt, setzt diese Einschränkung bei den Schulen an; die übrige Sprachpraxis ist scheinbar frei. «Ein Jurist hatte sich in einer Eingabe ans Bundesverfassungsgericht die Rechtschreibereform (1996 verkündet) verbeten als Eingriff in seine persönliche Freiheit. Er wurde aufgeklärt: Er könne weiterhin schreiben wie er wolle, niemand könne ihn zur Orthografie zwingen. Einzig die Lehrer seien aufgrund des KMK-Abkommens von 1948 verpflichtet, im Unterricht die vom Dudenverlag zuletzt publizierten Schreibweisen zu lehren und zu kontrollieren.» [1] Die Sprachfreiheit werde also nicht dahingehend eingeschränkt, dass es etwa verbotene Sprachen gibt – man kann mit seinen Geschäftspartnern sprechen, wie man will –, die Sprachfreiheit wird aber im Schulwesen verhindert. Die Grammatik und die Orthografie sind nicht den Lehrern und den Schulkindeltern beziehungsweise Studenten überlassen. Damit wird den Menschen, die sich nicht für eine Privatschule entscheiden, ein wichtiger Teil der Bildung nicht auf der Grundlage der Selbstbestimmung vermittelt. Die Kritik aus einem Standpunkt der Dreigliederung an der vorenthaltenen Sprachfreiheit in Bezug auf das Standarddeutsch ist ein Aspekt der Forderung nach Bildungsfreiheit.

Die Sprachfreiheit wurde in der Geschichte der deutschen Sprache immer wieder unterdrückt. Synonym für Standarddeutsch wird der Ausdruck «Hochdeutsch» verwendet. Dies ist eine geografische Abgrenzung, die auf Grund von Unterschieden im Dialekt aufgestellt wurden. Die «Sprachgesellschaften», die sich im Zeitalter des Barocks der Pflege und Analyse der Sprache widmeten, sprachen die Dialekte der reformierten, nördlichen Gegenden Deutschlands. In dieser Zeit begann sich der Sprachnationalismus zu entwickeln. Als das Latein in den darauf folgenden Jahrhunderten als Amtssprache verdrängt wurde, setzte sich dieser spezifische Dialekt gegen den oberdeutschen der katholischen Gegenden durch. Die religiös bedingten Machtkämpfe im 30jährigen Krieg wurden damit im Bereich der vorherrschenden Sprache weitergeführt. Dies ist ein knapper Überblick über die Entstehung unserer heutigen Standardsprache, die keineswegs «natürlich» gewachsen ist. Vielmehr steht dahinter ein Machtkampf verschiedener kultureller Bewegungen, die sich den Staat zum Instrument gemacht haben.

1. Wer bestimmt unsere Sprachnormen heute?

Im Gegensatz zum französischsprachigen Raum gab es im deutschsprachigen seither eine etwas grössere Unabhängigkeit der Institution, die festlegt, was das Standarddeutsch beinhaltet. In Frankreich gibt es seit 1635 das staatliche Institut der Académie francaise, welche die Wörterbücher und Grammatiken herausgibt. Für die deutsche Sprache gab es bis vor kurzem noch kein staatliches Amt, sondern einen privatwirtschaftlichen Betrieb mit dem Namen Bibliografisches Institut Manheim. Hier wird der Duden herausgegeben, der jedoch von staatlicher Seite zum Standart erklärt wurde. Damit wurde der Sprachfreiheit bisher auch Grenzen gesetzt.

1995 wurde nun aber beschlossen, eine Rechtschreibereform vorzunehmen, die ab 2005 in Kraft trat. Ein Jahr davor wurde der Rat für deutsche Rechtschreibung ins Leben gerufen, der einige Reformvorschläge wieder rückgängig machte; diese Version galt ab 2006. Mit der Bildung dieses Rates hat das Duden-Wörterbuch seine ausschliessliche Verbindlichkeit verloren. [2] Damit sind die Fragen der Sprache auch im deutschsprachigen Raum stärker in die Hände des Staates gerückt.

Diesem Ereignis ging schleichend eine zunehmende Kontrolle durch politische Institutionen voraus. Bereits 1958 wurde durch die westdeutschen Kultusministerien in Wiesbaden ein Reformvorschlag gemacht. Er wurde mit dem Pathos der Gleichberechtigung aller Gesellschaftsschichten geführt. Eine Vereinfachung der Grossschreibung sollte der Grammatik den Hauch des elitären Bürgertums nehmen. Eine Denkart, die vor allem in den 70er Jahren den Diskurs bestimmte. 1987 ging wiederum ein Auftrag vom Bundesinnenministerium und der Kultusministerkonferenz an das Institut für deutsche Sprache. In diesem Institut befindet sich heute auch der Rat für deutsche Rechtschreibung. Unter dem Vorwand einer vereinfachten Grossschreibung sollte ein Reformvorschlag entwickelt werden.

2. Das Problem von Sprachnormen aus sprachwissenschaftlicher Sicht

Die Vereinheitlichungstendenzen zu einer allgemeinen Grammatik und Rechtschreibung wurde durch den Buchdruck stark gefördert, der durch eine Einheitlichkeit in der Schriftsprache Kosten sparen und ein grössere Reichweite erlangen konnte. Massgeblich war auch das Leistungsprinzip in den Schulen ab dem 19. Jahrhundert. Die Alphabetisierungsbestrebungen forderten eine Schulgrammatik. Zu dieser Zeit entstanden auch die ersten Grammatikschulbücher. Aber auch die Grammatikforscher suchten nach Regeln und trieben die Bestrebungen nach einer Vereinheitlichung voran. Der Duden tat nun das Seine, in dem er nicht nur beschreibend, sondern auch Norm setzend wirkte. [3]

Die Sprachwissenschaft ist sich heute weitgehend darüber einig, dass die Sprache keine Gesetze besitzt – die werden durch die Sprechenden und deren gesellschaftlichen Umstände geschaffen. Sprache befinde sich in einem ständigen Wandel. Lautverschiebungen, Beeinflussungen durch andere Sprachen mit verschiedenen Graden der Integration. Manche Fremdworte werden konjugiert (bspspw. surfen, filmen, skaten) und dekliniert wie Ausdrücke der eigenen Sprache, anderer werden als «Fremdkörper» aufgenommen und bleiben unveränderlich. Diese und andere Beobachtungen zur Sprachentwicklung verweisen darauf, dass es unsinnig ist, universelle Sprachgesetze anzunehmen.

Der Sprachwissenschaftler Werner Ingendahl fordert vor diesem Hintergrund für die Deutschdidaktiken, dass den Lernenden die Relativität der Sprachnormen mit der Sprache mitvermittelt werden solle. [4] Diese Ansicht nimmt den wissenschaftlichen Befund der Wandelbarkeit und der sozialen Bedingtheit der Sprache auf. In einem Schulwesen, das durch demokratische Organe bestimmt wird, kann man darin eine gewisse Berechtigung sehen. In einer Gemeinschaft bildet sich ein Konsens darüber, wie man am besten miteinander kommuniziert. Wenn in der Schule darauf verwiesen wird, dass dieser Konsens nicht gottgegeben ist, lässt man dem Kind die Möglichkeit, sich in seiner Weise einzubringen.

Es stellt sich aber die Frage, ob es das ist, was ein Kind wirklich braucht, oder ob es nicht alleine gelassen wird, wo es sich am Geistesleben der Erwachsenen entwickeln will.

Wie auch immer man dieses pädagogische Problem beurteilt, der Standpunkt Ingendahls ändert nichts daran, dass der Staat in seiner Bestimmung der Schulsprache kulturelle Minderheiten die Möglichkeit nimmt, die eigene Sprache ihren Kindern angemessen weiterzugeben. Ingendahl zieht seine Konsequenzen aus den Auseinandersetzungen mit der Entstehung der Normen und nicht aus sozialwissenschaftlicher Perspektive. Man kann auf die Frage danach verzichten, wie man selber sprechen will und die Sprachgestaltung der Masse überlassen. Aber man kann daraus keine Schlussfolgerungen für alle ziehen.

3. Probleme des politischen Einflusses auf die Sprachnormen

Am Beispiel der Terminologie der Wortarten lässt sich zeigen, dass der politische Einfluss auf die Sprachwissenschaft ihr schadet. Es gibt sehr unterschiedliche wissenschaftliche Herangehensweisen an Grammatik. Je nach dem werden auch andere Unterteilungen in die Wortarten vorgenommen. «Dass man nach Beispielen für solche Begriffsverwirrungen nicht lange suchen muss, zeigt die Gegenüberstellung zweier aktueller Schulgrammatiken aus renommierten Verlagshäusern. Schulgrammatik A verweist darauf, dass Adjektive adverbial verwendet werden können (...), während Schulgrammatik B Adjektive im Fall der adverbialen Verwendung zu Adverbien mutieren lässt, indem sie konstatiert, das Wort «dringend» in dem Beispielsatz «Suche dringend Englischlehrer» sei als Adverb anzusehen (...).» [5] Christoph Müller verweist darauf hin, dass die staatliche Festlegung der Terminologie für die Wortarten dazu führt, dass die Diskurse zwischen den verschiedenen Ansätzen verflacht werden. Es wird unter dem Vorwand der Theorieneutralität auf die lateinischen Ausdrücke zurückgegriffen. Dies schliesst aber neuere Ansätze, welche die Unterscheidung der Wortarten auf dem Hintergrund von textfunktionalen Aspekten treffen, aus (Thema-Rhema, Satzfokus, Kohärenz). Die lateinischen Termini gehen von einer Einzelsatzanalyse aus und sehen nicht über die Satzgrenze hinaus. [6]

Am Beispiel der Terminologie der Wortarten wird deutlich, dass fachliche Diskurse darunter leiden, wenn durch politische Verwaltungen Eingriffe vorgenommen werden. Die wesentlichen Auseinandersetzungen finden offensichtlich in der Auseinandersetzung verschiedener Sprachwissenschaftler mit unterschiedlichen Ansätzen statt. Dem Menschen ist am meisten gedient, wenn sich die verschiedenen Wissenschaftsschulen nach ihren Methoden entwickeln und der Einzelne für sich entscheidet, welche Grammatik ihm am sinnvollsten erscheint. Wenn man dabei befürchtet, dass es zur Isolation von Sprachgruppen führt, welche die Kommunikation im Alltagsleben erschwert, kann sich auch für eine Grammatik entscheiden, welche sich Langfristigkeit und Anschluss an traditionelle Konzepte auf die Fahne schreibt. Sie schränken damit aber nicht zugleich auch diejenigen ein, welche noch andere Ansprüche an die Sprache haben.

4. Freies Geistesleben und Sprachnormen

Die Forderung nach Selbstbestimmung im Geistesleben im Sinne der Dreigliederung verlangt auch nach der Sprachfreiheit. Dies kann der Staat ermöglichen, aber nicht selber betreiben. Die zunehmende Anbindung von Institutionen, welche die Rechtschreibenormen festlegen, arbeitet dem entgegen. Auch die ausgeklügelten Formen der so genannten «Standartvarietät» können dem Bedürfnis nach individueller Sprachgestaltung nicht gerecht werden.

Dabei geht nicht nur um eine künstlerische Freiheit. Es kann auch in wissenschaftlichen Bereichen zu Neubildungen in der Sprache kommen, wie man es bei Rudolf Steiner mit dem Ausdruck «kraften» findet. Damit wollte er bestimmte Vorgänge präziser ausdrücken, für die es vorher kein treffendes Wort gab. Sprachgestaltung kann eine Notwendigkeit darstellen, die nicht rechtlich bestimmt werden kann.

Wie in allen Bereichen des freien Geisteslebens ist es aber nicht damit getan, dass man nur seine Kultur- und Wissenschaftsform abseits der allgemeinen Gesellschaft praktiziert. Es müssen gesellschaftliche Formen gefördert werden, die das freie Geistesleben erst ermöglichen. Solange das keine individualistische Grundlage besitzt, wird es durch die Masse beschnitten. Und wenn man kulturelle tatsächlich ein absoluter Durchschnittsmensch wäre, müsste man doch immer auch das Geistesleben anderer über die Steuern mitfinanzieren.

Das freie Geistesleben ist nicht nur eine schöne Forderung für noch schönere Gedanken, sondern mit weitreichenden gesellschaftlichen Konsequenzen verbunden. Sie ist aber wie sämtliche Bereiche der Dreigliederung nicht für sich alleine umzusetzen. Veränderungen sind etwa in angemessene Finanzierungsformen, die im sogenannten Schenkungsgeld bestehen, zu suchen. Auf der Ebene des Rechtslebens ist die Bildungspflicht in ein Bildungsrecht umzuformen.

5. Literatur

[1] Werner, Sprachreflexion statt Grammatik. Ein didaktisches Konzept für alle Schulstufen. Tübingen 1999, S. 227.
[2] Ortwin Beisbart, Dieter Marenbach, Bausteine der Deutschdidaktik. Ein Studienbuch. Donauwörth 2006, S. 161.
[3] Heiko Balhorn, Heinz Giese, Claudia Osburg (Hg.), Betrachtungen über Sprachbetrachtungen. Grammatik und Unterricht. Hannover 2000, S. 116f.
[4] Ingendahl 1999, S. 230.
[5] Christoph Müller, Schulgrammatik und schulgrammatische Terminologie, in: Ursula Bredel, Hartmut Günther, Peter Klotz, Jakob Ossner, Gesa Siebert-Ott (Hg.): Didaktik der deutschen Sprache. Ein Handbuch. 2 Teilbände. 2., durchgesehene Auflage. Paderborn 2006, S 446.
[6] Ebenda.