Sterbehilfe und freie Ärztewahl

01.04.2012

Ein anthroposophischer Standpunkt zur Sterbehilfe kann der sein, wie er auf www.sterben.ch vertreten wird. Man kann dem Sterbewunsch eines Menschen offen gegenüberstehen und aus spirituellen Überzeugungen zu nachtodlichen Prozessen darauf verweisen, dass es für den persönlichen Werdegang von Bedeutung sein kann, auch schmerzvolle Lebensumstände nicht vorzeitig durch den Suizid abzubrechen. Was sind aber die massgebenden Beiträge, die aus einem Standpunkt der Dreigliederung zur Sterbehilfe geleistet werden können? Wie nicht selten ist es dabei nötig, dass die Antwort unabhängig von anthroposophischen Überzeugungen aus anderen Bereichen gegeben werden können. Die Grundthese des Essays ist, dass die Sterbehilfe eine Frage des Rechtes auf Selbstbestimmung im Geistesleben und konkreter der freien Arztwahl ist. Das individuelle Bestimmungsrecht in kulturellen und wissenschaftlichen Fragen, das die Dreigliederung vorsieht, gilt auch für die Medizin. Es muss folglich dem Einzelnen überlassen sein, den Arzt für sich zu bestimmen, der gemäss seinem kulturellen und wissenschaftlichen Hintergrund die Behandlungen durchführt. Es gehört dann zur Aufgabe des Arztes, zu entscheiden, ob er die Sterbehilfe annehmen will oder nicht und wie er seinen Patienten, die den Wunsch haben zu sterben, gegenübertritt. Dabei versteht es sich von selbst, dass die Ursache des Sterbewunsches sehr zentral ist und dass Sterbewunsch nicht gleich Sterbewunsch ist.

Im Wissen, dass es sich bei Selbstmord um komplexere Fragen als das blosse Verhältnis zwischen Arzt und Patient handelt und dass das gesamte soziale Umfeld eine wichtige Rolle spielt, steht in folgendem Essay der Arzt im Zentrum meiner Betrachtungen. Mir geht es hier um die rechtlichen Aspekte der Beihilfe zum Suizid, sowie um die daraus entstehenden Arzt-Patienten-Verhältnisse und die Bildung entsprechender Institutionen.
Die Begriffe Sterbehilfe und Beihilfe zum Suizid werden im weiteren Verlauf des Textes als Synonyme verwendet. Bei beiden Begriffen ist nicht bloss die natürliche Begleitung eines sterbenden Menschen gemeint, sondern die Sterbehilfe.

1. Die rechtliche Lage der Beihilfe zum Suizid in der Schweiz

In den aktuellen politischen Diskussionen geht es insbesondere um die Frage der aktiven oder passiven Rolle des Arztes bei Sterbehilfe. In der Schweiz gilt das uneingeschränkte Tötungsverbot. In Bezug auf die Beihilfe zum Suizid werden dabei drei Aspekte unterschieden: 1. Die „direkte aktive Sterbehilfe“ (gezielte Tötung zur Verkürzung der Leiden eines Menschen). Sie ist verboten. 2. Die „indirekte aktive Sterbehilfe“ (Einsatz von Mitteln, deren Nebenwirkungen die Lebensdauer herabsetzen können). Sie ist im geltenden Strafgesetzbuch nicht ausdrücklich geregelt, gilt aber grundsätzlich als zulässig. 3. Die „passive Sterbehilfe“ (Verzicht auf die Einleitung lebenserhaltender Massnahmen oder Abbruch solcher Massnahmen). Sie ist gesetzlich ebenfalls nicht ausdrücklich geregelt, wird aber als erlaubt angesehen. Folglich besteht im Strafrecht keine ausdrückliche Regelung zur organisierten Sterbehilfe, woran der Bundesrat im Moment auch keinen Änderungsbedarf sieht. Nur allfällige Missbräuche sollen mit den geltenden gesetzlichen Mitteln bekämpft werden können. Dies ermöglicht den beiden Institutionen Dignitas und Exit die Sterbehilfe institutionalisiert zu betreiben. Sie nutzen eine Rechtslücke, denn der Patient aktiviert die Einführung der todbringenden Mittel selbst .

2. Dreigliederung und Sterbehilfe

Aus einem Standpunkt der Dreigliederung kann man sich nicht damit zufrieden geben, politische Programme darüber zu entwickeln, in welcher Form Sterbehilfe geleistet werden darf oder nicht. Auch die rechtliche Unterbindung von möglichen Missbräuchen in der organisierten Sterbehilfe reicht nicht aus. Das kulturelle Selbstverständnis der Menschen wird dadurch ausgeklammert. Gerade das Sterben ist aber sehr eng mit dem kulturellen Selbstverständnis verbunden. In Ländern, in denen Sterbehilfe jeder Art verboten ist, werden Schleichwege gesucht, um im Geheimen über den Suizid zu sprechen. Es sind auch Schleichwege nötig, um dem Leben ein Ende zu setzen. Wo die freie Arztwahl gegeben ist, kann hier ein ungezwungener und sachlicherer Zugang gewonnen werden.
Es muss dem Einzelnen überlassen sein, den Arzt zu wählen, der seiner Lebens- und eben auch Sterbekultur am besten entspricht. Dies kann ein anthroposophischer Arzt sein, welcher der Überzeugung ist, dass man unter schmerzlichen Umständen das Leiden erleichtern, aber das Leben nicht frühzeitig beenden soll. Es muss aber auch ein Arzt sein können, der den frühzeitigen Tod unter Umständen als sinnvoll erachtet. Der Arzt ist im weitesten Sinn ein Begleiter, was das Sterben betrifft. Seine Aufgabe besteht darin, Beratung zu leisten, die Umstände genau zu prüfen und im gegebenen Fall die nötigen Mittel zur Verfügung zu stellen. Er kann auch beigezogen werden, wenn ein Patient plötzlich nicht mehr fähig sein sollte, sich über seine Vorstellungen zu äussern. Die freie Arztwahl ermöglicht ein Arzt-Patienten-Verhältnis, das dem Patienten wirklich entspricht. Vorstellbar ist ein ähnliches Verfahren wie bei der freien Richterwahl, wo auf bestimmte Zeit jemand eingesetzt wird. Für die Befugnisse eines Arztes, im Fall eines Komapatienten etwa über das Leben des Betroffenen zu entscheiden, ist von den Politikern die entsprechende Rechtsgrundlage auszuarbeiten. Ob und in welcher Form dabei eine Patientenverfügung noch nötig sein wird, wird sich erweisen.
Wenn man mit der Selbstbestimmung im Geistesleben ernst machen will, macht es konsequenterweise auch keinen Sinn, einem Arzt das Recht auf direkte aktive Sterbehilfe vorzuenthalten. Man bewegt sich hier im Bereich eines Tabus, das nur dem Patienten schadet. Wenn jemand für sich entschieden hat, seinem Leben ein Ende zu setzen und ein Arzt derselben Meinung ist und ihm seinen letzten Wunsch gewähren will, weshalb muss dann ein fast ganz gelähmter Mensch die tödliche Injektion mit der Zunge selbst aktivieren? – Ein rechtlicher Formalismus ohne praktische Relevanz. Es ist denkbar, dass sich Spezialisten für Sterbehilfe etablieren würden. Diese hätten ihre Funktion aber durch ein Interesse von Patientenseite erhalten. Wenn sie festen Einrichtungen errichten, dann vor dem Hintergrund, dass Menschen bei ihnen sterben wollen. Dies unterscheidet sich von der Idee einer staatlich organisierten Sterbehilfeinstitution. Bei letzterer würden immer eine ganze Reihe von Leuten mitsprechen, die nie Gebrauch davon machen, womit die Selbstbestimmung ausgeschaltet wäre.

Mit der Dreigliederung lassen sich zu den aktuellen Diskussionen über Sterbehilfe wesentliche Ergänzungen machen. So etwa zur Frage, wie die Gemeinschaft der Leidensverminderung oder dem Sterbewunsch gegenübersteht. Egal wie diese Frage beantwortet wird, die Rolle des Staates wird in den Diskussionen häufig überschätzt. Die Gemeinschaft muss sich auf die Ausarbeitung des Rechtes auf Beihilfe zum Suizid beschränken. Unterstützung – nicht im finanziellen Sinne, versteht sich – muss sich der Einzelne selber bei dem von ihm gewählten Arzt holen. Die Finanzierung von Arztbesuchen ist in der Dreigliederung bei Erwerbsfähigen mit einer Neugestaltung des Wirtschaftslebens verbunden. Nichtarbeitsfähige werden von der Gemeinschaft getragen, wobei auch hier das Recht auf freie Arztwahl gewährleistet wird.
Ob Suizid nun einer Krankheit zugeschrieben wird und der Mensch bei einem solchen Entscheid nicht im eigenen Sinn handelt oder ob es noch andere Motivationen zum Selbstmord gibt, kann nicht die Grundlage der Diskussion darstellen. Das sind bereits kulturelle und medizinische Grundlagenentscheide, die nicht in rechtliche Diskussionen einfliessen dürfen. Wenn der Suizidgedanke als nicht menschlichen Ursprungs, sondern von einer Krankheit bestimmt gedacht wird, merzt man die Einräumung eines Selbstbestimmungsrechtes grundsätzlich aus. Aber auch, dass es weitere Gründe zum Suizid als blosse Depression gibt ist mit Vorsicht zu geniessen. Alle möglichen Gründe als Gesetze auszuformulieren, bedeutet, ebenso für die Selbstbestimmung in kulturellen Angelegenheiten Beschränkungen zu schaffen. Es ist wichtig, dass diese Frage dem Einzelnen und seiner Arztwahl überlassen bleibt.
Dasselbe gilt für die Definition eines menschenwürdigen Todes. Ob es dem Selbstmörder angemessener ist, eine Institution zu schaffen, wo er sterben kann, statt dass er sich etwa vor einen Zug wirft, kann streng genommen nicht pauschal beurteilt werden, sondern ist eine individuelle Angelegenheit. Damit will ich natürlich nicht leugnen, dass es für einen Zugfahrer und für die Zugpassagiere ein schreckliches Erlebnis ist, wenn sich jemand auf diese Art und Weise das Leben nimmt. Gerade diese Fälle nehmen meiner Meinung nach aber ab, wenn eine Rechtsgrundlage für die freie Arztwahl auch in Suizidfragen geschaffen wird. Das Rechtsleben kann nur die rechtliche Form für einen menschenwürdigen Tod schaffen und dem Einzelnen das Recht einräumen, den Inhalt dazu selbst zu bestimmen. Dies wird übertreten, sobald inhaltliche Vorgaben für Institutionen, welche Beihilfe zum Suizid leisten, durch das Rechtsleben geschaffen werden.
Auch dem Argument, dass in Institutionen für Sterbehilfe ein Geschäft mit dem Tod betrieben wird, begegnet man am besten mit der freien Arztwahl. Die selbstbestimmte Arztwahl ist die beste Garantie dafür, dass die persönliche Lebenslage angemessen beurteilt wird. Fragwürdig ist es, wenn sich der Staat dazu entschliessen würde, die Beihilfe zum Suizid staatlich zu organisieren. Momentan bewegen sich diese Institutionen noch in einem undefinierten Raum. Dies bedeutet einerseits mehr Freiheit, andererseits aber auch, dass die Rechte eines eingesetzten Arztes noch nicht ausformuliert sind. Die freie Arztwahl hilft auch entscheidend die Gefahr der Entledigung von „lästigen“, pflegebedürftigen Verwandten zu klären. Ein individuell eingesetzter Arzt trifft am ehesten Entscheidungen aus seinem kulturellen und wissenschaftlichen Hintergrund und unabhängig von der Familienpolitik.

3. Schlussbetrachtungen

Die Sterbehilfe ist ein sehr und tabubelastetes Thema. An ihm kann aber auch die Probe gemacht werden, ob man mit der freien Arztwahl und der Freiheit im Geistesleben überhaupt ernst machen will oder eben nicht. Sobald es um den Tod geht, tauchen oft alte religiöse Vorstellungen auf, die über das Rechtsleben auf die gesamte Gesellschaft ausgedehnt werden sollen. An den religiösen Vorstellungen selber ist aus der Perspektive der Dreigliederung selbstverständlich nichts auszusetzen. Sie müssen jedoch von Individuum gepflegt werden und dürfen unter keinen Umständen den Mitmenschen aufgedrängt werden. Der Selbstmörder Individualismus hat eben auf dem Friedhof Geistesleben nach wie vor kein Recht bestattet zu werden!

Wenn ich das Recht auf Sterbehilfe befürworte, dann heisst das selbstverständlich nicht, dass ich die Zahl der Suizidfälle fördern will. Grundsätzlich bin ich der Ansicht, dass durch die Umsetzung der Dreigliederung viele Selbstmorde verhindert werden können. Die Selbstbestimmung im Geistesleben führt dazu, dass mit Sinnkrisen flexibler umgegangen werden kann. Die Aufhebung der Lohnarbeit lässt Arbeitende jenes Einkommen erhalten, das sie brauchen. Zudem können sie sich als wertvolle Arbeitskraft erleben, da sie ihre Fähigkeiten wirklich einbringen können. Assoziationen ermöglichen den Konsumenten jene Produkte zu bekommen, die sie wirklich wollen, was ebenfalls ein enormer Zuwachs an Lebensqualität bedeutet. Ein weiterer Aspekt ist die direkte Beteiligung am Rechtsleben, die dem Menschen den Schutz vor anderen gibt, den er sich wünscht. All dies verbessert die Lebensqualität und würde die Selbstmordrate vermutlich senken. Dies müsste in Studien über die Ursachen von Selbstmorden untersucht werden. In meinem Essay ging es nicht um die Reduktion des Suizids durch gesellschaftliche Veränderungen, sondern um einen speziellen Fall der freien Arztwahl.
Die freie Arztwahl ist folglich ein wichtiger Schritt, um die Freiheit im Geistesleben und somit die Selbstbestimmung der Menschen zu gewährleisten. Es geht mir dabei nicht um einen Appell an unsere Gesellschaft – die das Rechts-, Wirtschafts- und Geistesleben vermischt – Sterbehilfe zu befürworten, sondern um eine angemessene rechtliche Grundlage im Sinne der Dreigliederung. Es ist meiner Meinung nach wichtig, dass Sterbehilfe geleistet werden kann, wenn ein schwer leidender Patient dies wünscht und sein Arzt ein ähnliches kulturelles Verständnis hat und dies ethisch vertreten kann.